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Wortlautgrenze im Gemeinschaftsrecht |
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Wo liegt die Grenze für die Kompetenz des Richters, über Sprache zu entscheiden, da doch eine derartige Grenze nicht bereits von der Sprache selbst gezogen wird?
Der schon in den nationalen Rechtsordnungen schwierige Umgang mit der "Wortlautgrenze" wird im Gemeinschaftsrecht durch die Mehrsprachigkeit noch weiter erschwert. Die Erfahrungen mit einer mehrsprachigen Rechtsordnung bringen einen in der Praxis tätigen Richter zu folgender Einschätzung: „Die Bedeutung des Wortlautargumentes ist aus zwei Gründen zu relativieren. Zum einen, weil jedenfalls in einer mehrsprachigen Rechtsordnung die Wortlaute oder wohl besser: die Wortbedeutungen auch beim optimalsten Übersetzungsversuch vielfach nie völlig übereinstimmen werden. Gerade Unterschiede in den verschiedenen Gesetzestexten können deutlich machen, dass (...) der ‘richtige Wortlaut’ jedenfalls fallbezogen sich mit keinem der verschiedensprachigen Gesetzestexte deckt. Solche Unterschiede können gerade in einem mehrsprachigen Gremium die Augen öffnen für Auslegungsalternativen, auf die man sonst vielleicht nicht gekommen wäre. Zum andern aus Gründen des Sprachwandels, eines Phänomens, das sich sogar im gleichen Gesetz finden kann – eine besondere Form von Mehrsprachigkeit. Für den deutschen Sprachbereich kommt ein dritter Grund hinzu: Es gibt gar nicht eine einheitliche deutsche Sprache; vielmehr unterscheiden sich die Sprachgebräuche in den drei Ländern Österreich, Deutschland und der Schweiz.“ (Schubarth, M., Die Bedeutung der Mehrsprachigkeit der schweizerischen Gesetze für die höchstrichterliche Rechtsprechung in LeGes 2001/3) Sprachphilosophie und Linguistik nach ihrem heutigen Stand können diese zutreffend genannten Schwierigkeiten nicht etwa beseitigen, sondern müssen sie im Gegenteil noch dramatisieren. Donald Davidson zufolge wird es sogar immer „eine endlose Zahl verschiedener Sprachen geben“. Und zwar solche, die sich nicht dem Erfindungsreichtum beispielhungriger Linguisten verdanken, sondern Sprachen, „die alle mit den tatsächlichen Äußerungen eines Sprechers übereinstimmen“. „Denn wenn wir es genau nehmen, sprechen wahrscheinlich keine zwei Leute tatsächlich die gleiche Sprache.“ (Davidson, D., Die zweite Person, in: DZfPh 2000)
Nun soll es immer nur das eine Recht für alle geben. Das gebieten Grundsätze wie die Gleichheit vor dem Gesetz und die Rechtssicherheit. Für die Formulierung dieses einen Rechts gibt es aber im Gemeinschaftsrecht eine Vielzahl von Sprachen. Darüber hinwegsetzen kann sich der Jurist nicht; schon gar nicht der Richter, dem es obliegt, über Recht und Unrecht zu entscheiden. Das eine Recht darf nicht das Recht nur des einen sein, darf nicht willkürlich gesprochen werden. Dagegen stehen Grundsätze wie die Fallgerechtigkeit und das Recht auf Gehör im Gerichtsverfahren.
Andererseits darf sich der Richter auch nicht dadurch behelfen, den Verfahrensbeteiligten nach dem Mund zu reden. Nur: welcher der vielen Sprachen soll sich der europäische Richter bedienen, um dem Buchstaben des Gesetzes die eine allgemeine Bedeutung zu verleihen?
Die Aufgabe im Rechtsstreit ist nicht erst die Herstellung von Verständnis, sondern dessen Bewertung. Der Streit entsteht nicht aus einem Mangel, sondern sozusagen aus einem Überfluß an Verstehen. Beide Gegenparteien haben das Gesetz je auf ihre Weise durchaus verstanden. Es geht gerade um einen Konflikt einander ausschließender Lesarten desselben Gesetzes. Das führt zu einem Paradox: "Entscheidungen gibt es nur, wenn etwas prinzipiell Unentscheidbares (nicht nur: Unentschiedenes!) vorliegt. Denn andernfalls wäre die Entscheidung schon entschieden und müsste nur noch 'erkannt' werden." Beide Lesarten sind je in sich verständlich und gehören damit zur Sprache. Welche von beiden ist vorzuziehen? Der Richter erklärt nicht die Bedeutung, die der Text bereits vor dem Fall hatte, sondern er produziert für den Fall eine Lesart und stellt damit eine insoweit verbindliche Sprachnorm auf. Wie kann der Wortlaut des Gesetzes hier als Grenze wirken?
Die Verknüpfung zwischen Gesetzgeber und Richter darf weder zu stark noch zu schwach gefasst werden. Zu stark wäre es, wenn man vom Gesetzgeber verlangte, alle künftigen Lesarten und damit die Bedeutung seiner Texte im voraus zu determinieren. Diese Forderung des Positivismus scheitert an den sprachlichen Realitäten. Zu schwach gefasst wäre die Verknüpfung andererseits, wenn die Wahl des Ausgangspunkts für die Entscheidung ins freie Belieben des Richters gestellt wäre. Denn der Gesetzgeber kann durch die Vorgabe des Ausgangstextes den schöpferischen Prozess der Rechtsnormsetzung – linguistisch gesehen – nachdrücklich „irritieren“. In diesem Sinn könnte man das Verhältnis zwischen Gesetzgeber und juristischem Entscheider als strukturelle Kopplung bezeichnen. Zu den Dienstpflichten etwa des Richters, den Normtext als Ausgangspunkt zu nehmen, kommen noch die methodenbezogenen Normen der Verfassung und ihre Präzisierung durch die Wissenschaft hinzu. So entsteht eine dreigliedrige Kette zwischen Gesetzgeber, Wissenschaft und Umsetzung, exemplarisch durch die Justiz. Die Rechtsnorm als die generelle Bedeutung des geltenden Rechts für "einen Fall wie diesen" setzt der Richter. Hier ist der Gesetzgeber mit der Determination in aller Regel überfordert. Den Ausgangspunkt seiner Entscheidung muss sich der Richter aber von außen als Normtext vorgeben lassen. Andernfalls wäre die Beeinflussung durch den Gesetzgeber als rationaler Kern von Gewaltenteilung und richterlicher Bindung aufgehoben.
Das verfassungsrechtliche Rechtsstaatsprinzip ist eine Entscheidung für die Praxis einer Grenze: es verlangt vom Rechts„anwender“, dem engeren, spezifischeren Kontext bei der Bedeutungsbestimmung den Vorrang einzuräumen. Unter den Vorgaben des durch den Normtext gesetzten Textformulars (des "Gesetzes") und der an die methodenbezogenen Normen des Primärrechts rückgebundenen Standards methodischer Zurechnung sind die Möglichkeiten zum Durchsetzen einer bestimmten Interpretationsweise im Europarecht deutlich stärker eingeschränkt und damit kontrollierbarer als in einem nur auf das politische Sprachspiel bezogenen semantischen Konflikt. Eine Grenze juristischer Textarbeit ergibt sich so als Relation zwischen drei Faktoren: Der vom Gesetzgeber verabschiedete Normtext als Zeichenkette muss Ausgangs- und Zurechnungsgröße der Entscheidung sein. Die von der Wissenschaft entwickelten methodischen Instrumentarien eröffnen Kontexte für die Bedeutungsbestimmung. Ausgehend von den methodenbezogenen Normen der Verfassung können diese Kontexte in eine Rangfolge gebracht werden, gleichzeitig sorgt der prozessrechtliche Rahmen des Gerichtsverfahrens für ihre Verendlichung. Außerdem gibt es zur weiteren Kontrolle den Instanzenzug, unterstützt von der begleitenden Kritik der Wissenschaft am Tun der Gerichte. All diese Faktoren, zusammengenommen, ergeben die Gesetzesbindung. Der Rechtsstaat ist nicht monologisch-richterbezogen, sondern diskursiv-verfahrensbezogen. Er verlässt sich nicht auf einsame Erkenntnis, sondern fordert eine öffentliche Diskussion, in der sich die besseren Argumente für die Lesart des Gesetzes durchsetzen sollen.
Damit kommen für die Praxis der Grenzziehung zwei weitere Probleme in den Blick: einmal die Anforderungen an die Konstruktion von Sprachnormen als Rechtsnormen. Zweitens die Begründung der Entscheidung als Überprüfungsbasis und als Verarbeitung der im Verfahren vorgebrachten Argumente.
JM II, S. 399 ff. |
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