start Technische Hinweise glossar • • • lectures schemata suche sitemapimpressum
Recht&Sprache Recht und Sprache
Linguistik Rechtslinguistik: Sprache des Rechts
register
Vorrangregeln und Einzelfall
Gegen die Möglichkeit einer rechtsstaatlich kontrollierbaren Rangfolge juristischer Argumente wird vorgebracht, dass eine solche nicht abstrakt und generell vorherbestimmt werden könne, sondern sich nur aus dem Gewicht der Argumente im Einzelfall ableiten lasse. Die Begründung dieser Sicht arbeitet mit dem Argument, hinter den Konkretisierungselementen stünden Interessen, die im konkreten Fall in unterschiedlicher Intensität betroffen seien. Die Zuordnung von Konkretisierungselementen und Interessen wird dabei folgendermaßen durchgeführt: „Wird beispielsweise von einer Auslegungshypothese behauptet, sie verstoße gegen den Wortlaut einer Vorschrift zuungunsten eines Täters, so wird damit ein Vertrauensinteresse der Rechtsunterworfenen zur Geltung gebracht. Wird von einer Auslegungshypothese gesagt, sie führe im allgemeinen zu ungerechten Ergebnissen, so wird hiermit ein Interesse an Entscheidungen artikuliert, die allgemein akzeptiert werden. Wird der Wille des historischen Gesetzgebers an Auslegungshypothesen herangetragen, so wird das Interesse, Auslegungshypothesen an die gesetzgeberische Entscheidung zurückzubinden, zur Geltung gebracht. Auslegungshypothesen werden dann unter dem Gesichtspunkt der 'Authenzität' analysiert". Diese Sicht führt trotz ihrer Übersichtlichkeit aber zu neuen Schwierigkeiten. Schon der Ansatz einer Zuordnung von Konkretisierungselementen und Interessen erscheint als Repräsentationsmodell fragwürdig. Aber selbst davon einmal abgesehen, sind die Einzelheiten dieses Vorschlags recht problematisch. Dass die grammatische Auslegung das Vertrauen des Rechtsverkehrs schütze, ist ein altehrwürdiges Argument der objektiven Auslegungslehre. Wie in der neueren Literatur mehrfach gezeigt wurde, ist es jedoch nach dem Stand heutiger Sprachwissenschaft nicht mehr zu halten. Man müsste dafür eine homogene Alltagssprache voraussetzen können, in die sich der juristische Diskurs zudem noch bruchlos einzufügen hätte. Ebenso wenig lässt sich die Gerechtigkeit mit der allgemeinen Akzeptanz kurzschließen. Denn über die Frage, was als gerecht zu akzeptieren ist, herrschen in einer pluralistischen Gesellschaft sehr unterschiedliche Vorstellungen. Auch die Kopplung von historischem Gesetzgeber und „Authenzität" verkürzt die wirklichen Zusammenhänge. Zwar wird zugegeben, dass die Legislative kein Kollektivorgan ist und ihr auch kein einheitlicher Wille unterstellt werden kann. Aber in dem Bild einer einheitlichen gesetzgeberischen Handlung als Bezugspunkt von „Authenzität" wirkt immer noch die Fiktion eines homogenen Gesetzgebers nach. Die vielschichtigen Beziehungen zwischen Gesetzgebungsprozess und fertigem Normtext sind nur durch eine Semantik kompetitiven Handelns zu erfassen und lassen sich keineswegs auf ein „Authenzitätsinteresse" nach dem Muster von Autor und Werk zurückführen. Die Konkretisierungselemente sind nicht Ausdruck isolierter Interessen; sondern Fragerichtungen, die dazu dienen, Kontexte in den Entscheidungsprozeß einzubeziehen.

Erst wenn man die vergebliche Suche nach einem hinter den Mitteln der Interpretation stehenden Wesen aufgibt, kann man dann die Frage stellen, was es heißt, dass deren Ergebnisse für die Entscheidung „im Einzelfall" verschiedene Aussagekraft haben. Der Einzelfall ist nicht dadurch gekennzeichnet, dass in generelle Interessen verschieden intensiv eingegriffen wird; sondern dadurch, dass zwischen den Parteien Streit um die Fallerzählung und die Lesart des Normtextes besteht. Es stehen sich damit mindestens zwei konkurrierende Interpretationen gegenüber, die sich auf die von den Konkretisierungselementen erfragten Kontexte in unterschiedlicher Weise beziehen können. Zentral ist aber, ob die von einer der Interpretationen vorgeschlagene Verknüpfungsweise durch das Ergebnis eines bestimmten Elements eindeutig ausgeschlossen wird. Die fragliche Interpretation lässt sich dann nur noch dadurch „retten", dass ein höherrangiges Element dieses Zwischenergebnis seinerseits eindeutig aus dem Feld schlagen kann. Es stehen sich also nicht generelle, sondern konkret erfragte Kontexte gegenüber. Diese werden auch nicht abstrakt abgewogen oder verglichen, sondern nur unter der Voraussetzung, dass ein Konfliktfall vorliegt, d.h. dass sie das Schicksal der sich im Streit befindenden Interpretationen in gegensätzlicher Weise beeinflussen. Wenn man also den oft beschworenen „Einzelfall" näher betrachtet, wird deutlich, dass generelle Vorrangregeln nicht nur nötig, sondern auch möglich sind.

JM II, S. 407 ff.
Das könnte
Sie auch interessieren:

EuGH
Rechtserkenntnis
Zum Anfang
Wir sind an Ihrer
Meinung interessiert
info@juristische-methodik.de
Wir freuen uns
auf Ihre Anregungen
Zum Anfang
© RC 2003 ff.