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Sprachdaten |
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Der Status der Priorität von Sprachdaten vor den Realdaten ebenso wie der Status der Präferierung jeweils normtextnäherer Elemente im methodologischen Konflikt ist damit der einer diskurswidrigen, aber normativ angeordneten, von der verfassten Staatsgewalt postulierten Disziplinierung der Rechtsarbeit. Dasselbe gilt für die Frage von deren Begrenzung: Es zeigt sich, dass dem Normtext (Wortlaut) auch bei der Frage, wo die Grenze zulässigen rechtlichen Begründens und Entscheidens liege, eine Sonderstellung zukommt. Diese folgt gleichfalls, vor dem Hintergrund des zur Sprache gebrachten mehrfachen Zwiespalts , aus dem positivierten, und das heißt hier: aus dem schriftlichen Charakter dieses Typus von Rechtssystem.
Der Normtext kann die Last aber nicht 'als solcher', nicht unvermittelt tragen. Er gewinnt Bedeutung in voller Hinsicht erst dadurch, dass er als Textformular in Arbeit genommen wird. Der Normtext als Ausdruck, als Zeichen „hat" seine Bedeutung nur so, wie sie ihm vom Rechtsarbeiter durch die Erklärungen gegeben wird, die den Text im Prozess der Rechtserzeugung auf eine Lesart festlegen. Ohne sie erhielte der Normtext nicht die normativ ausreichende Bedeutung für den zu entscheidenden Fall. Allerdings ist er von Anfang an mehr als nur ein Stück Papier, bedeckt mit Druckerschwärze, denn er liefert sowohl für die am Rechtsleben beteiligten Laien als auch für die Fachjuristen eine vorläufige Semantik. Der Rechtsarbeiter legt dann durch die von ihm erzeugte Rechtsnorm den Text auf eine Bedeutung als die seine fest. Er verleiht zugleich der von ihm erzeugten Norm die Worte und die Würde des Gesetzes als einen Titel auf Recht. Damit verschiebt der Rechtsarbeiter das zunächst zur Entscheidung des anstehenden Falles 'von sich aus' nichts sagende Zeichen des Gesetzes in das für diesen Fall bedeutende Zeichen seines Textes einer Rechtsnorm. Er produziert, „gibt" akut das Gesetz im Sinn eines Gehalts an Recht. Damit schafft er aber auch zugleich den „Angriffspunkt" für die Frage der Zulässigkeit. Durch die Festlegung des Normtextes auf die eine Bedeutung legt der entscheidende Jurist bilateral ineins den Text auf einen Ausdruck fest, den einen Ausdruck von Recht. Mit dem Zusammenschluss zu einem Zeichen des Rechts sind ihm nun weitere Semantisierungen verschlossen. Indem die Rechtserzeugung der Bedeutung des Normtextes eine Grenze dort zieht, wo ohne dies keine gezogen ist, wird die Bedeutungsgebung als Grenzziehung thematisierbar. Der entscheidende Jurist ist herausgefordert, unter Beweis zu stellen, dass er in seiner eine letzte gibt die individuelle „Wahrheit" dieses Falles wieder; nämlich die semantischen Praxis bei aller nötigen Erarbeitung des Textes doch nichts anderes tut, als mit dem Text zu arbeiten und so dem sprichwörtlichen Buchstaben des Gesetzes zu folgen.
Im realen Ablauf des einzelnen Entscheidungsvorgangs beginnt der Rechtsarbeiter mit einem Text (Fallbericht), formuliert ihn professionell um (Sachverhalt), zieht einige „geltende" Texte heran (gesetzliche Vorschriften, Normtexte); sodann sammelt er viele nicht-"geltende" Texte über Texte sowie eine Anzahl von Texten über Tatsachen (primär sprachliche und sekundär sprachliche Entscheidungsdaten), arbeitet all diese Texte methodisch durch und endet wieder mit einem Text (Entscheidungsnorm). Dieser „Bedeutung" der geltenden Rechtsordnung für ihn (was das Recht den am Fall Beteiligten zu tun oder zu lassen „bedeutet") - so wie der eine erste Text die Tatsächlichkeit des konkreten einzelnen Falls wiedergeben sollte.
Kurz vor dem Stadium der Entscheidungsnorm war der Rechtsarbeiter (demokratisch, rechtsstaatlich) verpflichtet, die individuelle „Wahrheit" dieses Falls als allgemeine zu formulieren: die „Bedeutung" des geltenden Rechts „für einen Fall wie diesen", d. h. den Text der im Fall hergestellten Rechtsnorm.
Die Paradoxie, dass sich juristische Textarbeit die Grenze erst selbst zu ziehen hat, der sie unterworfen und an der sie zu messen ist, ist nur eine vordergründige. Sie besagt nichts anderes, als dass die Frage der Wortlautgrenze unvermeidlich eine solche des Verfahrens ist: des Vorgangs der Erarbeitung des Normprogramms und des Textes der Rechtsnorm sowie der Entscheidungsnorm aus den Sprachdaten. Die Frage nach der Wortlautgrenze kann nicht auf einen Fixpunkt außerhalb der juristischen Arbeit an Sprache verlagert werden. Das zeigt sich gerade auch in den seltenen Grenzfällen, da die Begründung sich allein auf den Wortlaut konzentriert. Für diese Fälle gilt, dass sogar hier dieser Wortlaut vom Arbeitsvorgang her ein geschrumpftes Normprogramm darstellt. Auch dann ist es also nicht der in herkömmlicher Lehre verkürzend so genannte „mögliche Wortsinn", welcher letztlich lexikalisch fixierend argumentieren muss, der die normative Forderung des Rechtsstaats nach Verfassungs- und Gesetzesbindung realisieren hilft. Diese Forderung, einschließlich der sich an sie knüpfenden Normen (wie: Vorrang-, Vorbehalts-, Kollisions-, Maßstabs-, Verfahrens- und Kontrollvorschriften), wird vielmehr normalerweise mit Hilfe des Normprogramms, in den genannten Grenzfällen mit der des grammatisch ausgelegten, zuvor aber durch alle Stadien der Interpretation hindurch gegangenen Normtexts (beziehungsweise: aller einschlägigen Normtexte) eingelöst. In keinem Fall kann „die Wortlautgrenze" gegenständlich vorausgesetzt werden, auch nicht in „Begriffskern" und „Begriffshof' scheinbar abgeschichtet; in keinem Fall ist sie eine generalisierte, gleichsam - aus sprachlich/linguistischen Gründen - „gültige" Vorgegebenheit. Die begrenzende Wirkung ist keine (lexikalisch autoritativ formulierbare und daher für den Rechtsfall abzulesende) Eigenschaft des Normtexts beziehungsweise seiner einzelnen Ausdrücke.
Strukturiert wird das seit alters her so genannte Verhältnis von „Sein und Sollen", also die Problemachse „Norm"(Normtext)Wirklichkeit. Dabei wird
- dieses gemeinhin der Rechtsphilosophie überlassene Verhältnis in rechts(norm)theoretische Arbeitsbegriffe (Sachbereich - Fallbereich - Normbereich) aufgelöst und damit zunächst differenziert; - werden diese Arbeitsbegriffe in die oben genannte realistische zeitliche Verlaufsform eingeführt und insoweit operationalisiert sowie - die so zustande gekommenen Gruppen von Konkretisierungselementen in doppelter Weise zugunsten der Sprachdaten hierarchisiert: einmal allgemein und in jedem Rechtsfall dadurch, dass die Menge der Realdaten (Sachbereich/Fallbereich) beim versuchten Übergang in das Stadium des Normbereichs am Normprogramm (der ausgearbeiteten und synthetisierten Menge der Sprachdaten) scheitern kann, sei es bei der Relevanz- oder sei es bei der Vereinbarkeitsprüfung. Und zweitens in all den Fällen - also keineswegs in allen -, in denen es zu methodologischen Konflikten zwischen einzelnen Konkretisierungselementen kommt, dadurch, dass die je nach Konfliktgruppe unterschiedenen und abgestuften Präferenzregeln durchweg den je normtextnäheren Elementen den Vorzug einräumen (wobei es sich notwendig nicht mehr um den „bloßen", sondern stets schon um den interpretierten Gesetzeswortlaut handelt).
JM I, Rn. 530 ff., 550 f. |
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