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Richterrecht und Verfassungsrecht |
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Die Position, die dem verfassungsrechtlichen Richterrecht zugewiesen wird, schwankt zwischen der Annahme originärer rechtsschöpferischer Gewalt, die dem Verfassungsgeber nicht ein Monopol, sondern nur eine Prärogative der Normsetzung zuerkennen will, und seiner Reduktion auf formallogische Verfassungs„anwendung" mittels syllogistischer Schlüsse. Ferner sind in einem ersten funktionellen Ansatz als Maßstäbe für verfassungsrechtliches Richterrecht unter dem Grundgesetz das Gebot der Legitimität, das der Objektivität, der Rationalität, der Stabilität, der Kontinuität und der Publizität genannt worden.
Im seit jeher bekannten Sinn, bei dem juristische Entscheidungstätigkeit nur unter dem Blickwinkel einer Rechts„anwendungs"lehre verstanden wird, erscheint richterliches Tun nur deshalb und insoweit als kreativ, als es sich nicht in Subsumtion erschöpft. So besteht Rechts„fort"bildung banal nur in all dem, was über den Normtext hinausführt; so wird als „Richterrecht" unzutreffend jeglicher Überschuss zum Syllogismusmodell bezeichnet. Richterrecht stellt nach dieser Ansicht das Bilden all derjenigen Entscheidungsnormen dar, die nicht direkt „dem Gesetz" entnommen werden; die, anders gesagt, nicht von dem unmittelbaren, uninterpretierten Normtext vorgegeben sind, sondern erst einer Konkretisierung bedürfen.
Gegenüber diesem uferlosen Gebrauch sollte das Problem auf die Fälle eingegrenzt werden, in denen sich ein Richter oder eine Stelle der vollziehenden Gewalt „über das Gesetz hinwegsetzt"; sei es mangels einer Vorschrift (praeter legem), sei es gegen eine solche (contra legem). Normstrukturell sind diese echten Fälle von Richterrecht durch das Nichtvorhandensein eines Normtextes gekennzeichnet, daher auch durch das Fehlen eines korrekten Normprogramms; ferner durch das Vorherrschen rein tatsächlicher Sachargumente und durch deren Verbleiben in der nicht-normativen Gestalt des Sach- und Fallbereichs, ohne dass sie zu einem normativ relevanten Normbereich werden könnten.
Da unter „Normtext" nur der von den legislativen Instanzen formulierte und in Geltung gesetzte amtliche Wortlaut von Rechtsvorschriften zu verstehen ist, bleibt zu präzisieren: Bei einem richterrechtlichen Entscheidungsakt setzt das Gericht nicht nur, wie stets, eine Rechts- und eine Entscheidungsnorm, sondern auch und bereits einen Quasi- (oder Pseudo-)Normtext.
JM I, Rn. 105 ff. |
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