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Richterrecht rechtstheoretisch |
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Die Umschreibung eines Falles von Richterrecht hat eine rechtstheoretische, eine methodologische und eine normative Seite. Von der Rechts(norm)theorie her kommt die systematische Unterscheidung von Normtext, Rechtsnorm und Entscheidungsnorm. Methodologisch geht die Frage dahin, ob Richterrecht vorliegt; ob also die im Fall erstellte Rechtsnorm auf einen Normtext zurückgeht, der in der vorhandenen Normtextmenge des „geltenden Rechts" enthalten ist, oder auf einen im Verlauf der Fallösung erst formulierten Quasi-Normtext. Normativ ist die Frage nach der (verfassungs-)rechtlichen Zulässigkeit solchen Tuns. Denn unter Aufgreifen eines nach Ansicht des Gerichts dringenden gesellschaftlichen Regelungsbedarfs, dem die Legislativorgane (noch) nicht genügt haben, hat hier eine im System der Gewaltenteilung nur zum Bilden von Rechts- und Entscheidungsnormen berechtigte Instanz zusätzlich einen Quasi-Normtext gesetzt. Das aber widerspricht geltendem Verfassungsrecht. Art. 20 Abs. 3 GG bindet die Rechtsprechung an „Gesetz und Recht". Diese Vorschrift stellt damit lediglich das Gewohnheitsrecht neben das geschriebene Recht, enthält jedoch nicht die Möglichkeit der Umdeutung von Art. 20 Abs. 3 GG in eine Ermächtigungsnorm zur Setzung von Pseudo-Normtexten. Diese Auffassung wird bekräftigt durch die Spezialnorm des Art. 97 Abs. l GG, der davon spricht, die Richter seien „nur dem Gesetze unterworfen", womit auf die der Textstruktur des Rechtsstaats eigentümliche Art eine verbindliche Ausrichtung an Normtexten verlangt wird.
Zentral in diesem Zusammenhang ist das Gewaltenteilungsprinzip. Im Bereich der Justiz würde sonst das außerhalb parlamentarischer Verfahren gesetzte Richterrecht ohne inhaltliche Vorsteuerung durch Normtexte zu einem Amtsrecht werden, das angesichts der schöpferischen Natur auch schon der normalen Konkretisierung den Parlamenten in dem betroffenen Bereich de lege lata überhaupt kein Funktionsreservat mehr beließe. Die traditionelle Doktrin zum (zivilrechtlichen) Richterrecht argumentiert so, als lautete Art. 92 GG: „Die rechtsprechende und - so weit sie es für erforderlich halten - die gesetzgebende Gewalt ist den Richtern anvertraut". In der demokratischen Ordnung des Grundgesetzes darf die Gerichtsbarkeit aber nicht zum Prätor, ihr Richterrecht nicht funktionell zum amtsrechtlichen Edikt werden, das die demokratisch entstandene und verantwortete Menge der Rechtssätze (die Normtexte) überspielt.
Hier kann nun auch die vom Demokratieprinzip herkommende Seite richterlicher Gesetzesbindung neu formuliert werden. Die ausführenden' Gewalten Exekutive und Rechtsprechung sind nicht nur rechtsstaatlich konstituiert, eingerichtet und kontrolliert, sie sind auch demokratisch gebunden. Der einerseits legislatorische, andererseits judikative und bürokratische Anteil an der Erzeugung von Recht im allgemeinen kann mit den Begriffen von Volksrecht und Amtsrecht gebündelt werden. „Volksrecht" soll demokratisch erzeugtes Recht heißen. Hierfür gibt es die Möglichkeit des Referendums, des Volksentscheids: je nach verfassungsrechtlicher Konstruktion kann es sich um Streitentscheidung, das heißt um Rechtsnorm- und Entscheidungsnormsetzung handeln, normalerweise aber um einen materiellen Beschluss ohne Orientierung an schon vorhandenen Normtexten. Wo diese Möglichkeit, wie unter dem Grundgesetz, weitestgehend ausgeschaltet ist, wo es auch keine Richter- und Beamtenwahl durch das Volk gibt und wo kein imperatives Mandat vorkommt, dort ist die einzige durch einen realen politischen Vorgang demokratisch verankerte Möglichkeit der Rechtsetzung eben das Bilden von Eingangsdaten für Rechtsentscheidungen, das parlamentarische Formulieren und Setzen von Normtexten.
Konkretes Recht des Einzelfalls in Form von Entscheidungsnormen wird normalerweise nicht direkt demokratisch erzeugt. Das Setzen von Entscheidungsnormen ist politisch geprägten demokratischen Verfahren in aller Regel entzogen. Die den Fall unmittelbar regelnden Akte sind dem Amtsrecht vorbehalten, nämlich den gerichtlich oder bürokratisch erzeugten Fallentscheiden, die nicht nur aus rechtsstaatlichen, sondern nicht weniger auch aus demokratischen Gründen an den Normtexten müssen gerechtfertigt werden können. Eine ehrliche, rationale Arbeitsmethodik der Juristen, die sich rechtsstaatlicher Nachprüfbarkeit bewusst unterwirft und dadurch ihre Verfassungsbindung zu verwirklichen bestrebt ist, kann dazu führen, dass die in Normtexten formalisierten Ergebnisse demokratischer Politik auch tatsächlich den Rechtszustand der Gesellschaft prägen. Das Amtsrecht darf das Volksrecht nicht überspielen, sich nicht von ihm abkoppeln, es nicht auszutricksen versuchen. Vollziehende und rechtsprechende Gewalt dürfen weder an Normtexten vorbeigehen noch diese verbiegen, noch auch - abgesehen von ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Ausnahmen - selbständig Normtexte setzen. Sie dürfen nicht Prätor spielen.
JM I, Rn. 108 ff. |
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