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Linguistik Rechtslinguistik: Sprache des Rechts
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Reine Rechtslehre
Mit seinem Pochen auf bloße, der Lebenswirklichkeit entrückte Positivität des Rechts nahm der Positivismus die Minderung oder den Verlust rechtlicher Normativität in Kauf. Deren spezifische Bedingungen wie die Eigenart von Recht überhaupt gerieten in dem Maß aus dem Blick, in dem das Methodenideal einer sich noch nicht fragwürdig gewordenen Naturwissenschaft unkritisch auf Rechtsvorschriften übertragen wurde. Juristischer Positivismus in diesem Sinn ist nicht nur die Rechtstheorie, die sich bewusst auf positives Recht beschränkt und alle sonstigen, wenn auch herkömmlich als „Recht" erfassten sozialen Ordnungen aus dem Rechtsbegriff verweist. Damit ist nur der jüngere, der sozusagen entnaturrechtlichte Positivismus Kelsenscher Prägung erfasst, der das Manko einer verschwiegen unterstellten inhaltlichen Ideologie methodisch mit der Leerstelle der „Grundnorm" zu ersetzen sucht. Pragmatisch ist die Kelsensche Position „logischer" Positivismus ebenso wie der ältere, ideologisch ist sie Dezisionismus, weil sie auf Gerbers und Labands Einbettung des positiven Rechts in höhere „Rechtsbegriffe" und so auf die damit entstandene Verankerung in den Verhältnissen der Entstehungszeit einer solchen Theorie verzichtet. Der ältere Positivismus ist dagegen, mit Kelsen verglichen, nicht konsequent positivistisch, sondern auf eine bestimmte soziale und politische Lage eingeschworen und auch nur aus seiner Funktion für diese voll erklärbar. Grundlage dieses Rechtsverständnisses ist die Verdinglichung von Rechtsvorschriften und juristischen Begriffen zu schlichter Vorgegebenheit. Diese verlässt leicht den Boden historisch fixierter Positivität und wird zur schlechten Metaphysik. Jede neugeschaffene Verfassung soll auf vorpositive juristische Elemente im Sinn einer auf die Rechtswissenschaft übertragenen Anorganischen Chemie zurückgeführt werden können. Nicht nur einer Verfassung, sondern jeder Rechtsbildung überhaupt ist für diese Sicht „nur die tatsächliche Verwendung und Verbindung der allgemeinen Rechtsbegriffe" eigentümlich. Jedes mögliche Rechtsinstitut kann mit absoluter Notwendigkeit „einem höheren und allgemeineren Rechtsbegriff' untergeordnet werden1. Mit einem methodischen Optimismus, der inzwischen auch den Naturwissenschaften abhanden gekommen ist, werden dort rechtliche Vorschriften als unmittelbare Gegebenheiten im Sinn von Naturdingen behandelt.

Georg Jellineks „Allgemeine Staatslehre" von 1900 ist mit ihrem doppelten Begriff vom Recht als tatsächlicher Rechtsübung und als einer Gesamtheit von Normen, mit ihrem doppelten Begriff von Staat (Gesamtheit der Willensverhältnisse einer sozialen Gruppe - rechtliche Institution mit Rechtspersönlichkeit) und Staatslehre (Allgemeine Staatslehre als normative - allgemeine Soziallehre vom Staat als Wirklichkeitswissenschaft) repräsentativ für den deutschen Rechtspositivismus der Jahrhundertwende. Die Übernahme ihrer Positionen in die Verfassungskonkretisierung kann nicht nur bei normwidriger, sondern auch bei normneutraler Unterstellung praeter constitutionem deutliche Abweichungen von anderen, als positivrechtlich ausweisbaren Konkretisierungsergebnissen mit sich bringen. In Auseinandersetzung mit dem Methodendualismus der Jellinekschen „Zwei-Seiten-Theorie" spaltete sich die Systematik der deutschen Staats- und Verfassungslehre in monistische Sichtweisen: in die normlogistische Ineinssetzung von Rechtsordnung und Staat um der Reinheit des Rechts willen bei Hans Kelsen und in die gleichfalls einseitig zugespitzte Auflösung des Dualismus von Norm und Faktum zugunsten politischer Existentialität im Dezisionismus Carl Schmitts. Autoren wie Erich Kaufmann, Rudolf Smend (der Staat als Integrationszusammenhang) und Hermann Heller (der Staat als organisierte Entscheidungs- und Wirkungseinheit) bemühten sich, über extreme Entgegensetzungen hinauszugelangen und staatliches Dasein wie normatives Verfaßtsein material zu erfassen. Neben sozialwissenschaftlichen Ansätzen (Oppenheimer, Jerusalem, Gumplowicz, Drath) finden sich weiterhin an einem mehrfachen Staatsbegriff orientierte Methoden (Laun, Nawiasky) oder idealistische Konzeptionen von „Repräsentation" i Sinn des dialektischen Prozesses einer menschlichen Gruppe mit sich selbst, der die „Selbstaufbereitung" der Gesellschaft zum Staat umfassen und in den Formen von Amt und Gesetz gipfeln soll. All diese und vergleichbare andre Grundpositionen können, wie bekannt, gerade in der komplexen Materie des Verfassungsrechts - auch ohne exakt nachweisbare Verstöße gegen geltendes Recht - entscheidende außer-normative Quellen für Ergebnisse der Verfassungsverwirklichung darstellen.

Auch die allgemeinen geisteswissenschaftlichen Ansätze in der Rechtstheorie können das Verhältnis von Recht und Wirklichkeit und damit das Ganze der Struktur von Konkretisierung nicht hinreichend erfassen, selbst wenn sie im Grundsatz eine Wechselbezüglichkeit von Normativität und Faktizität betonen. Auch in auf solche Art vermittelnden Lehren sind die soziologischen und „ideologischen" Gehalte nur Voraussetzung und Gegenstand einer Rechtsnorm, die (wie im Positivismus) im Text schon vorgegeben sein soll. Sie werden nicht als Konstituens einer als Vorgang begriffenen Normativität erfasst. Die vermittelnden Auffassungen lassen sich Grundpositionen der extremen Standpunkte (Gesetzespositivismus, Dezisionismus, Normlogismaus, Soziologismus) aufzwingen, so unter anderem die am praktischen Vorgang der Konkretisierung vorbeigehende Entgegensetzung von „Sein" und „Sollen". Gleichsam erst nachträglich setzen sie die zunächst übernommenen Abstraktionen in „korrelative", „dialektische" oder „polare" Beziehung zueinander. Dagegen kommt es für eine den Aufgaben der Konkretisierung gerecht werdende Methodik darauf an, nicht länger „die" Wirklichkeit „dem" Recht pauschal gegenüberzustellen. Vielmehr ist im hier erörterten Sinn soziale Wirklichkeit zum einen als Geltungsraum von Recht schlechthin, zum ändern als vom einzelnen Normtext vorausgesetzter, rezipierter oder erzeugter Wirklichkeitsausschnitt im einzelnen zu differenzieren. Änderungen der Wirklichkeit führen nicht notwendig und unmittelbar zu Änderungen im Normprogramm. So führt beispielsweise die Entwicklung der neuen Multimediadienste dazu, dass das Konzept des Datenschutzes technikspezifisch und risikoadäquat ergänzt werden muss. Das zwingt den Gesetzgeber dazu, Gesetzgebung als vorläufig und experimentell zu begreifen. Denn nur soweit es das Normprogramm zulässt, kann die Wirklichkeit berücksichtigt werden. Sonst muss die Legislative tätig werden. Weil sie diesen Schritt von einer Methodik der Textauslegung zu einer Methodik der Konkretisierung nicht tun, gelangen auch die Lehren von der normativen Kraft des Faktischen, die Versuche der Ideologiekritik, der Rechtsphänomenologie und der Vorschlag einer normtheoretisch noch ganz unverbundenen Forschungskombination von Rechtssoziologie und juristischer Entscheidungstechnik für die tatsächliche Struktur der Rechtsbildung über den Dualismus von Sein und Sollen in seiner neukantianischen Fassung nicht hinaus.

Die Verschränkung von „Sein" und „Sollen" in der Normativität (seit „Normstruktur und Normativität", 1966) rechtfertigt sich ganz grundsätzlich schon vom Sprachesein der Rechtsarbeit her: beide Gruppen von Faktoren (später, seit 1971 in der „Juristischen Methodik" „Sprachdaten" und „Realdaten" genannt) operieren als Sprechen/Schreiben, als Text. Sprache kann beidem, wenn es das (noch) herrschende Paradigma so will, verschiedene Namen geben (also „Sein" und „Sollen"). Aber das ändert nichts an den Bedingungen der tatsächlich zu leistenden, der tatsächlich getanen Arbeit. Das differente Benennen kann beiden Faktorengruppen keinen de facto getrennten operativen Status verschaffen; tatsächlich wirken sie miteinander, mag man sie noch so gravitätisch als „auseinander unableitbar" titulieren.

Klar: Aus einem „Sein" leitet sich logisch kein „Sollen" ab. Aber sobald jemand es tut, z. B. die Gesetzgebung, ist es schon geschehen. (Die Logik ist so unangreifbar wie die Aerodynamik; gemäß dieser ist bekanntlich noch nie eine Hummel geflogen.)

Ü berhaupt erweist es sich, dass die sonst in wesentlichen Punkten so verschiedenen herkömmlichen Positionen in der Frage (verfassungs-)juristischer Methodik den theoretischen Rahmen des Gesetzespositivismus nicht überschreiten. Dass sie, wie Dezisionismus und Integrationslehre, in Gegenstellung zum Gesetzespositivismus entwickelt worden sind, ändert der Sache nach an diesem Ergebnis nichts. Schmitt wie Kelsen überwältigen die Sachgehalte geltender Rechtsnormen im Ergebnis gleichermaßen voluntaristisch. Bei beiden ist die Verkürzung der Rechtsnorm auf einen abstrakten Dualismus von Sein und Sollen nachweisbar. Recht als positives Recht, als sachlich so und nicht anders bestimmtes Ordnungsmodell wird bei beiden ausgespart: zugunsten eines puristischen Wissenschaftsbegriffs bei Kelsen, zugunsten existentialistischer Geschichtsphilosophie bei Schmitt. Die scharfe Entgegensetzung von Subjekt und Inhalt der Entscheidung besagt: Die Frage nach inhaltlicher Richtigkeit von Recht wird nicht normativ, sondern existentialistischgesehen. Für die Aufgaben der Jurisprudenz ergibt das denselben sachleeren Normbegriff, wie ihn der Gesetzespositivismus in die Geschichte der Rechtswissenschaft eingeführt hatte. Der Dezisionismus Schmittscher Prägung hat eine andre Philosophie als der Positivismus, aber - von der Struktur von Norm und Normkonkretisierungher gesehen - denselben Typus von Rechtstheorie: nämlich keine Strukturtheorie des Rechts selbst und der Bedingungen, unter denen es tatsächlich konkretisiert, d.h. als Rechtsnorm im Fall konstruiert wird. Nur wird bei Kelsen ohne den Umweg über eine Geschichtstheorie der Weg zur Entleerung des Rechts von seinen Ordnungsimpulsen und zur Dispensierung der Jurisprudenz von der Entwicklung einer Methodik von spezifisch juristischer Rationalität und Objektivität folgerichtig zu Ende gegangen.

JM I, Rn. 83, 419, 423
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