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Rechtserkenntnisquelle |
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Die verschiedenen Typen rechtlicher Anordnung sind nicht zu „der" Rechtsnorm zu verallgemeinern. Aus einem derartigen Abstraktum können nicht Folgerungen abgeleitet werden, die der Aufgabe praktischer Konkretisierung standhalten. Dagegen ist die allen Rechtsvorschriften gemeinsame Normativität ein Maßstab, der den Anforderungen an rechts(norm)theoretische und methodische Direktiven zugrunde gelegt werden kann. So hat sich gezeigt, dass der durch eine folgerichtig reflektierte Theorie und Praxis noch nicht überwundene Gesetzespositivismus mit seinem Verständnis des Rechts als eines lückenlosen Systems, der Entscheidung als einer strikt logischen Subsumtion und mit seiner Ausschaltung aller nicht im Normtext abgebildeten Elemente der sozialen Ordnung einer praktisch nicht durchzuhaltenden Fiktion nachhängt. Noch in Kelsens Behauptung, Norm und normierte Tatsächlichkeit stünden beziehungslos nebeneinander, zeigt sich der Irrtum eines Ansatzes, der einen inzwischen auch naturwissenschaftlich überholten Wissenschaftsbegriff auf das Recht überträgt, statt die Eigenart rechtlicher Normativität unmittelbar anhand juristischer Konkretisierung zu erforschen. Diese Untersuchung zeigt, dass die Rechtsnorm nicht als abstrakter Sollensbefehl, als hypothetisches Urteil oder als sachleerer Willensakt verstehbar ist. Das Axiom, rechtliche Entscheidungen seien durch formale Logik aus den Normtexten, also aus sprachlichen Gebilden voll ableitbar, führt unversehens Voraussetzungen ein, die als unkontrollierbare, weil nicht eingestandene Fehlerquellen nicht nur die angestrebte formalistische Selbstgenügsamkeit des positivistischen Rechtsanwendungsideals, sondern auch die der Rechtspraxis und Rechtswissenschaft überhaupt mögliche Rationalität und Methodenklarheit in Frage stellen.
Den Juristen ist es geläufig, neben dem Wortlaut der anzuwendenden Vorschrift (und - meist unreflektiert - dem Sachgehalt ihres Normbereichs), neben anderen Normtexten, die systematisierend mit ihm verglichen und verarbeitet werden, außer Texten von Materialien und rechtsgeschichtlich feststellbaren Normvorbildern bei der Lösung jedes Falls von einiger Schwierigkeit auch die Aussagen einschlägiger Rechtsprechung, der Lehrbuch-, Kommentar- und monographischen Literatur als praktisch unentbehrliche „Quellen" heranzuziehen. Dass und inwiefern dieses Vorgehen sachlich in der Struktur von Normativität und Konkretisierung begründet ist, wurde hier schon erörtert. Die dogmatischen (und ferner die rechts- und verfassungstheoretischen) Texte sind in der üblichen Terminologie nicht Rechtsquellen, sondern Rechtserkenntnisquellen. Auch sie sind sprachlich formuliert. Daher sind auch sie - nach Maßgabe von Fall und Normtext - ihrerseits der Interpretation, allen Möglichkeiten sprachlicher Auslegung bedürftig und zugänglich. Auch Sätze der Theorie und Dogmatik, mögen sie in rechtswissenschaftlichen Schriften oder in Rechtsprechung enthalten sein, sind wie zumeist die Sprachfassungen von Gesetzen „generell" und „abstrakt". Das insofern, als sie die sachliche Eigenart des Rechtsfalls, der ihr Herbeiziehen zur Konkretisierungsarbeit veranlassen wird, und die der angesichts dieses Falls zu erarbeitenden Rechts- und Entscheidungsnorm nach aller Erfahrung nicht vorwegnehmen können. Aussagen von Dogmatik und Theorie wie übrigens auch die lösungstechnischer und rechts- bzw. verfassungspolitischer Art (die ebenfalls sprachlich ausgedrückt werden müssen) teilen damit das Schicksal von Normprogramm, Normbereich und Normtext, von Gesetzesmaterialien, historischen Normvorbildern und das des zu lösenden Falls: nicht ohne weitere Bearbeitung fertig und anwendbar zur Verfügung zu stehen. Es ist das Schicksal sämtlicher Elemente juristischer Konkretisierung. Warum das sachnotwendig so ist - die „Sache" von Rechtspraxis und Rechtswissenschaft ist die ständige Arbeit an der Gewährleistung, Verwirklichung und Fortentwicklung rechtlicher Ordnung des menschlichen Zusammenlebens -, hat sich als durch die hier durchgeführte Strukturanalyse von Normativität begründbar herausgestellt.
JM I, Rn. 153, 400 |
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