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pragmatische Wende |
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Der von der Philosophie ausgehende Ansatz der Sprachkritik wird durch die neuere Entwicklung in der Sprachwissenschaft noch vertieft. Diese zieht die Folgerungen aus jener Traditionslinie einer Reflexion auf Sprache, die sich gegen die lange vorherrschende aristotelische Auffassung von Sprache als Nomenklatur wendet. Diese Unterströmung beginnt im deutschsprachigen Raum mit der Kritik Hamanns und Herders an den 'Purismen' eines rationalistischen Systemdenkens von Sprache. Sie wird fortgesetzt in den Humboldtschen Ausarbeitungen eines Begriffs von Sprache als tätiger Welterschließung und hat in Wittgensteins kompromissloser Auffassung von „Sprache als Praxis" ihren Höhepunkt. Vor dem Hintergrund dieser Tradition und unmittelbar an die angloamerikanische Philosophie der normalen Sprache' anknüpfend, tritt in der Sprachwissenschaft mit der pragmatischen Wende dann auch die sprachsystembezogene und statische Sicht des linguistischen Strukturalismus zunehmend hinter eine sprecherbezogene und die Sprachdynamik berücksichtigende Perspektive zurück. Die in den neueren Sprachwissenschaftlichen Ansätzen vorausgesetzte Bedeutungstheorie wird sprachhandlungstheoretisch begründet. Darin liegt der Gegensatz zur traditionellen semantischen Theorie, welche die Bedeutung als feste Entität ansah. Bedeutungen waren danach durch willkürliche Festlegungen zu einem bestimmten Zeitpunkt mit einer bestimmten Lautstruktur ein für allemal verbunden worden, und man konnte über diese Bedeutungen in der gleichen Art und Weise sprechen, wie man über Gegenstände spricht. Demgegenüber führt die sprachhandlungstheoretische Position dazu, anknüpfend an Wittgenstein den Grund der Bedeutungen mit ihrer Theorie im praktischen Gebrauch zu suchen. Bedeutung ergibt sich danach aus Begründungen und Erklärungen für den Sprachgebrauch in einer bestimmten Situation. Texte erscheinen dann nicht länger als eine der Erkenntnis fest vorgegebene Größe, sondern sind als der Ausfüllung bedürftige Textformulare nur in und aus der Produktions- und Verstehenssituation analysierbar. Die Offenheit der Bedeutung für den konkreten Gebrauch macht es möglich, den Vorgang der Interpretation zwischen den Extremen von „subjektiver Willkür" und „objektiver Erkenntnis" sowohl nach der Seite ihrer Gebundenheit als auch nach der ihrer Freiheit zu begreifen.
Als Folge dieser Einsicht tritt der aktive, sprachgestaltende Aspekt des Sprechens deutlicher hervor, damit auch der normative Anteil an der Formulierung sprachlicher Regeln. Die Sprache ist, so gesehen, weder eine dem Sprecher vorgeordnete und von ihm unabhängige quasi-natürliche Größe noch ein dem Belieben des jeweiligen Sprechers und seiner Intentionen überantwortetes reines Kunstprodukt. Als „Phänomen der dritten Art", ähnlich dem Marktphänomen der „invisible hand", liegt die Sprache zwischen diesen Extremen und enthält in ihrer spezifischen Objektivität einen gestaltenden Aspekt, welcher den Gegenstand der Sprachkritik bildet.
Ohne mit der Entwicklung in der Sprachwissenschaft in Austausch gestanden zu haben, weist die Strukturierende Rechtslehre mit der pragmatischen Wende in der Linguistik weitgehende Parallelen auf, die noch stärker und vor allem konkreter zur praktischen Semantik bestehen. Beide übernehmen nicht abstrakte Konzepte, um sie dann im Weg deduktiver Ableitungen auf einen bestimmten Gegenstandsbereich anzuwenden. Beide setzen bei den tatsächlichen Arbeitserfahrungen in ihrem jeweiligen Sektor an. Die eine rückt die Theorie der Sprachhandlung in den Mittelpunkt und hebt auf die Sprecher, und zwar auf alle Sprecher als die Subjekte des Sprachhandelns ab, damit auf den Handlungscharakter und -Zusammenhang von Sprache. Die andere, auf der Seite der juristischen Theorie und Methodik, geht von der Rechtsverwirklichung als einem tatsächlichen Vorgang aus, dessen einziges Subjekt der den Fall entscheidende Funktionsträger ist. Und sie sieht Rechtskonkretisierung im Kontinuum verfassungsrechtlich überformter gesellschaftlicher, politischer, ökonomischer Strukturen und Funktionen.
Die objektiven Parallelen betreffen also zunächst den handlungstheoretischen Grundansatz beider Konzeptionen. Eine andere Analogie bildet ihre Annäherung an den Regelbegriff als Regel- bzw. Rechtsnormerzeugung statt als Auffinden angeblich vorgegebener, feststehender Regeln oder Rechtsnormen. Die Betonung der zentralen Rolle des handelnden Subjekts in Abkehr von überkommenen Vorstellungen der Sprache als einem naturhaft auferlegten normativen System bzw. der Rechtsnorm als einer vorhandenen Entität zeigt eine weitere Übereinstimmung. Die Strukturierende Rechtslehre identifiziert seit langem die Norm so wenig mit dem Normtext wie die praktische Semantik die Regel mit der Regelformulierung, oder allgemeiner wie die heutige Linguistik den Text mit dem Textformular. Insofern können beide auch nicht auf irgendwelche Spielarten von Bedeutungsobjektivismus setzen; auch nicht in Gestalt logisch-semantischer Sprachauffassungen, die eine Präzision der Rechtstexte idealisieren oder hypostasieren. Das auf diesem Weg erneuerte Konzept von Rechtsstaat ist als „ (sprach)reflexiver Rechtsstaatsbegriff" bezeichnet worden.
Die linguistische Diskussion bestätigt insoweit auch jenen Ansatz der Strukturierenden Rechtslehre, demzufolge praktische Rechtsarbeit einen Text nicht etwa als substantiellen nur noch entfaltet, sondern, aus strukturellen Gründen des Sprachsystems, seine Bedeutung im Fall erst gestaltet. Rechtstheoretisch gewendet bedeutet dies, dass dem entscheidenden Juristen zwar der vom Gesetzgeber geschaffene Normtext als Textformular vorgegeben ist, nicht aber schon der Text der Rechtsnorm.
Versteht man mit Morris unter „Semiotik" das Ensemble aus Syntaktik (Beziehung der Zeichen untereinander), Semantik (Beziehung von Zeichen und Bedeutung), und Pragmatik (Beziehung von Zeichen und Benutzer), dann ergibt sich das folgende - vereinfachte - Bild: Der Gesetzespositivismus ist ein vorwiegend syntaktisches Konzept (Regelplatonismus plus „geschlossenes" bzw. „schließbares" System); die Antipositivismen im Denkstil der Hermeneutik erscheinen als semantische Ansätze („offene" Systeme plus noch immer Regelplatonismus). Der nachpositivistische Vorschlag ist in seinem Abschied vom Regelplatonismus pragmatisch: Vorstellungen von Geschlossenheit oder Schließbarkeit sind nur fromme Wünsche; statt „offenem System" geht es um methodische Organisation und damit sequenzenweise rationale Strukturierung des Rechtshandelns im Raum der Unfixierbarkeit.
Eine Rechtserzeugungsreflexion kann endlich die alte Gleichsetzung von Rechtsnorm und Normtext überwinden, welche den theoretischen Kern der positivistischen Lehre vom sprechenden Text darstellt. Der Normtext „enthält" nicht
eine normative Anweisung als substantielle Vorgegebenheit. Entgegen der positivistischen Annahme einer „Subsumtion" unter feststehende Bedeutungen ist der Text nicht das begriffliche Subjekt einer formallogischen Ableitung. Er vermag nur die normativ konstitutive Leistung des wirklichen Subjekts, des für den Fall zuständigen Juristen nämlich, zu beeinflussen. Mit der Unterscheidung von Rechtsnorm und Normtext wird der komplexe Semantisierungsvorgang sichtbar, den der Positivismus hinter der rhetorischen Fassade sprachlich vorgegebener Bedeutungen verstecken wollte und der sich auch nicht in ein jeder Diskussion methodischer Fragen vorgeordnetes „Gesetzbuch der praktischen Vernunft" einbinden lässt. Die praktische Textarbeit der Jurisprudenz ist auf eine in Regeldetermination nicht auflösbare Weise schöpferisch.
Mit der von der Strukturierenden Rechtslehre vorgeschlagenen Rechtsnormtheorie ist der Gesetzespositivismus verabschiedet; und es wird festgehalten, dass die Rechtsnorm als tragender Leitsatz der Entscheidung vom Rechtsarbeiter jeweils erst hergestellt wird. Entsprechend der wissenschaftsgeschichtlichen Bewegung, die sprachtheoretisch vom Sprachsystem zum sprachlichen Handeln führt, ist die Frage nach den Bindungen praktischer Rechtsarbeit damit von der illusionären Spekulation über eine vorgegebene Bedeutung des Normtextes befreit und in den konkreten Prozessen juristischer Argumentation neu gestellt. Gesetzesbindung bezieht sich nicht auf eine der Anwendung vorgegebene Rechtsnorm, sondern stellt sich dar als methodische Erschwerung und Disziplinierung im Vorgang der Herstellung der Rechtsnorm.
JM I, Rn. 210 ff. |
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