|
 |
 |
 |
 |
 |
 |
 |
 |
 |
 |
Normtext |
 |
Für die herkömmliche Lehre heißt „Bestimmtheit“, dass der Wortlaut des Gesetzes die Entscheidung des Rechtsfalls vorgibt. Dieses Postulat wird in der Theorie hochgehalten, in der Praxis jedoch nicht beachtet. Woran liegt das? Der Normtext ist mit dieser Fassung des Bestimmtheitsprinzips überanstrengt. Die Forderung nach einer Bestimmtheit und Klarheit rechtlicher Regelung, die im Sinn einer Eigenschaft der gesetzlichen Vorschrift innewohnt und damit der Auslegung und Anwendung vorgegeben ist, ist sprachlich nicht einlösbar. Kein Text kann die mit ihm verknüpften Lesarten determinieren. Der Text hat keinerlei instrinsische Eigenschaft, die die Festlegung auf eine bestimmte Lesart unabhängig von der Praxis des Umgangs mit diesem Text rechtfertigen könnte. Die Wahl einer Lesart bleibt also immer unterbestimmt und bringt eine Entscheidungskomponente ins Spiel. Bestimmtheit ist, wie die These von der Unbestimmtheit der Übersetzung in der analytischen Philosophie im Grundsatz zeigt, nie durch Sprache erreichbar. Sie kann immer nur innerhalb von gegebenen Sprach- bzw. Überzeugungssystemen hergestellt werden. Dabei wird allerdings das Problem der Unbestimmtheit zwangsläufig auf die Entscheidung für ein solches System verlagert. Die zweifache Unbestimmtheit von Sprache, nämlich die von begrifflichen Festlegungen innerhalb eines gegebenen Rahmens einerseits, sowie andererseits die der Wahl eines bestimmten Begriffsschemas, zeigt, dass die normtheoretischen Prämissen der bisherigen juristischen Auffassung des Bestimmtheitsgebots sprachtheoretisch nicht einlösbar sind. Es kann nicht von der Bestimmtheit als einer Eigenschaft von Gesetzestexten oder auch nur als einer Vorgabe durch die gesetzliche Vorschrift als solcher ausgegangen werden. Vielmehr ist Bestimmtheit eine normative Aufgabe. Sie stellt sich als Frage der Bestimmbarkeit von rechtsförmigen Entscheidungen anhand von Normtexten.
Gelegentlich kann von kritischen Geistern der Satz vernommen werden, „im Telefonbuch“ stünden „mehr Informationen als im Gesetzbuch“. So ist es - unter der Voraussetzung, unter „Information“ Gewissheit und auch ein Abnehmen eigener Entscheidungslast verstehen zu wollen. Unsicherheit und Verantwortbarkeit des eigenen Rechtshandelns nimmt das Gesetzbuch dem Juristen, der zu entscheiden hat (dem „Subjekt der Konkretisierung“) freilich nicht ab; es fordert beide heraus (und kann es dann doch wohl mit dem Telefonbuch aufnehmen).
Für eine Lösung dieses praktischen Problems sind die sprachtheoretischen Voraussetzungen der herkömmlichen Lehre vom Kopf auf die Füße zu stellen. Die noch vorherrschende Sprachauffassung der Juristen setzt als Regel, was von den sprachlichen Verhältnissen her allenfalls seltene Ausnahme sein kann. Sie geht vom angeblich bestimmten Begriff aus und qualifiziert dann die Ausnahmen als „unbestimmte“ oder „wertausfüllungsbedürftige“ Rechtsbegriffe. Dem ist entgegenzuhalten, dass Sprache überhaupt nur dadurch funktionieren kann, dass sie als solche erst einmal unbestimmt ist und damit in ihrer Bedeutung gegenüber der Vielfalt der Zwecke für ihren Einsatz autonom. Nur dadurch ist sie offen für wechselnde Kontexte. Zugleich kann sie aufgrund dieser Flexibilität in den verschiedenen Zusammenhängen stabil fungibel sein. Es stellt sich dann allerdings die Frage, was bei realistischem Einschätzen der sprachlichen Bedingungen „Bestimmtheit“ von Normtexten überhaupt noch heißen kann.
Normtheoretisch hat der Handlungssatz seinen Sitz im Sachbereich rechtlicher Regelungen; also in der Menge aller Sachaspekte, die mit den zunächst in Gestalt ihrer Normtexte vorbereiteten Rechtsnormen thematisch in Beziehung stehen können. Den Sachbereich machen dabei die allgemeinen Tatsachen aus (in Unterschied zu den individuellen aus der Fallerzählung bzw. dem juristisch schon umformulierten Sachverhalt). Individuell mögen z. B. einen Strafrechtfall Einzelhandlungen prägen wie: Gründung von Briefkastenfirmen, zahlreiche Kontoeröffnungen, Ausstellung überhöhter Rechnungen, systematisches Weiterschieben von Summen, usw. Typologisch sieht dies nach „Geldwäsche" aus, deren generelle Fakten - solange diese Normtexthypothese aufrecht erhalten wird - nun als Sachbereich zu untersuchen sind.
Der Handlungssatz gibt dem Sachbereich für die anstehende Normkonkretisierung sein semantisches Format. In seiner Extension sichert er für diese die Möglichkeit zur Bezugnahme, indem er Einzelereignisse individuiert. In seiner Intension sichert er ihr die Möglichkeit zum Zugriff auf das jeweils individuierte Ereignis, indem er dieses als Fall aus der Welt des Rechts anordnet. Entsprechend kommt der Tatbestandsbestimmung für eine Rechtsnormproduktion im Fall die Aufgabe zu, eine Grammatik zur Erarbeitung des Normbereichs zu entwerfen, durch den festgelegt wird, welche Tatsachen die fragliche Rechtsnorm mittragen können. Indem die Gesetzgebung der folgenden Normkonkretisierung die Bedingungen zu setzen hat, erfolgt sie gleichsam als umgekehrte und den späteren Entscheidungsvorgang in seiner Umkehrung vorwegnehmende Setzung von Entscheidungsnormen. Die dafür nötige Klassenbildung im Regelungsgegenstand ergibt sich dementsprechend aus der Umkehrung der Konkretisierung von Rechtsnormen bis hin zum Individualisieren einer Entscheidungsnorm und zugleich aus jener der individualisierenden Verengung der Elemente der Rechtsnorm.
Sprachtheoretisch wird die dafür erforderliche Allgemeinheit durch Universalisierung des Handlungssatzes erreicht. Extensional geht man damit vom Bezug auf ein Einzelereignis zur Festlegung des Bereichs einer Art von Ereignissen über. Für diese Art von Ereignissen gilt im übrigen, was Wittgenstein in Hinblick auf Gegenstände sagt: „Welche Art von Gegenstand etwas ist, sagt die Grammatik." Die dafür wiederum nötige Abstraktheit im Festlegen des Einzugsbereichs der Formulierung rechtlicher Vorschriften wird dadurch erzielt, dass man in den durch den Handlungssatz geordneten Zuschreibungen die Eigenschaften und Teile, die ein Einzelereignis herausgreifen und auszeichnen, durch die Variable für jeweils das Moment ersetzt, das jene Eigenschaften und Teile als Konstanten in Bezug auf das einzelne Ereignis belegen. Intensional geht man damit unter Erhalt des Freiheitsgrads des Handlungssatzes in der Mannigfaltigkeit der von ihm geordneten Zuschreibungen von der Kennzeichnung eines Falls in der Welt des Rechts zur Form für solcherlei Kennzeichnungen über. So legt man einen Raum möglicher Sachverhalte fest, die wesentlich von einer rechtlichen Regelung betroffen sein können und für die gilt, was Wittgenstein vom „Wesen" sagt: „Das Wesen ist in der Grammatik ausgesprochen."
Dabei zeigen sich zugleich auch die Grenzen der Möglichkeit sprachlicher Festlegung gesetzlicher Tatbestände durch den Normtext. Als ein grammatischer Ausdruck kann der Normtext die rechtliche Entscheidung über Episoden des sozialen Zusammenlebens nicht schon vorgeben. Vielmehr können mit ihm nur die Bedingungen dafür gesetzt werden, zu solchen Entscheidungen zu kommen. Der Normtext gibt in seiner Tatbestandsbestimmung nicht bereits einen Begriff der geregelten Sachverhalte. Vielmehr zeichnet er lediglich die Form vor, in der solche Begriffe zu bilden sind. Und er enthält auch nicht schon Beschreibungen, die sich mit Wahrheitsanspruch von den betreffenden Vorgängen des sozialen Lebens behaupten ließen. Tatsächlich zeigen die Festlegungen des Normtextes lediglich die Bedingungen an, unter denen aufgrund von Belegen über solche Wahrheitsansprüche zu entscheiden ist. Der Normtext gibt damit zwar einen Rahmen vor, in dem die Bestimmtheit rechtlicher Regelungen erreicht werden kann. Zugleich setzt er jedoch den Vorgang der Normkonkretisierung einer doppelten Entscheidungsungewissheit aus. Bestimmtheit kann so alles in allem keine Eigenschaft von Gesetzestexten sein. Vielmehr ist sie auf eine Strategie des Gewinns von Wahrheit für die nach den grammatischen Vorgaben des Normtextes zu bildenden Handlungssätze verwiesen. Für diese Strategie stellt sich dann weiter die Frage nach ihrer Ausgestaltung als Verfahren unter der verfassungsrechtlichen Forderung, Rechtssicherheit zu gewähren. Einmal mehr bestätigt dies übrigens die von der Strukturierenden Rechtslehre vorgeschlagene Unterscheidung zwischen der Geltung eines Normtextes und der Bedeutung der Norm. Bezeichnenderweise war von Bedeutungen in dem hier demonstrierten Theorieaufbau insoweit nicht die Rede, sondern stattdessen von Struktur und Entscheidung, von Festlegung und Form, die allesamt den Weg zu einer bestimmten Bedeutung des Normtextes, die die Rechtserzeugung zu erbringen hat, erst eröffnen und sozusagen planieren.
Ungeschminkt betrachtet, dient der Gesetzestext technisch als Ansatzpunkt, legitimatorisch als Durchzugsgebiet für miteinander konkurrierende, für einander widersprechende Interpretationsvarianten. Das macht jeder Blick in einen Gesetzes- oder Verfassungskommentar augenfällig: zahlreiche, manchmal Hunderte von Textseiten zu ein, zwei, drei Sätzen des darüber thronenden kargen Normtextes (Art. X der Konstitution, § Y des Gesetzes).
Die Strukturierende Rechtslehre geht davon aus, dass dem Normtext am Beginn der Konkretisierung erst Geltung und nicht schon Bedeutung zukommt. Mit diesem Ansatz werden drei Fragen getrennt, die in der herkömmlichen Lehre noch unklar vermischt sind. Es sind die Fragen nach Geltung, Bedeutung und Legitimation. Das positivistische Modell der Rechtserkenntnis setzt alle drei Probleme gleich: die Geltung des Normtextes liegt in seiner Bedeutung und die Entscheidung ist legitim, wenn sie die erkannte Bedeutung genau auf den Fall anwendet. Die von der Strukturierenden Rechtslehre ausgearbeitete Trennung verteilt die Probleme dagegen zunächst auf der Zeitachse: Geltung des Normtextes liegt am Anfang, Bedeutung als Ausfüllung des Textformulars (Normativität) am Ende. Dazwischen liegt ein Handeln des Rechtsarbeiters, das an Legitimitätsmaßstäben überprüft werden muss. Legitimität kommt der in der Entscheidung liegenden Ausübung von Staatsgewalt dann zu, wenn die Zurechnung der Bedeutung zum Normtext alle sprachlichen Anschlusszwänge methodisch überzeugend abgearbeitet hat, die sich aus einer verfassungsrechtlich rückgebundenen Argumentationskultur ergeben.
Die geschilderte Trennung ist aus der Sicht des alten positivistischen Modells von Rechtserkenntnis nicht leicht zu verstehen. Typisch ist insoweit eine Kritik, welche die Abschichtung von Zeichenkette und Bedeutung für unmöglich hält. Ein Normtext ohne Bedeutung sei als Zeichenkette gar nicht erkennbar und könne deswegen auch keine Geltung haben. Nun erscheinen zwar in der unreflektierten Alltagskommunikation Zeichenkörper und Bedeutung als Einheit. Aber schon die bloße Frage nach der Bedeutung eines bestimmten Zeichens legt beide Seiten auseinander. Der Raum, in den sich diese Frage entfaltet, ist der der Bedeutsamkeit.
JM I, Rn. 166, 175 ff., 185 ff. |
 |
|
 |
|
|