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Lücke
Die Rückzugsbewegung des Rechtserkenntnismodells vom Gesetz in immer weniger greifbare Sphären wiederholt sich in Ansätzen, welche die „Ergebnisse" der neuen Gerechtigkeitsdiskussion mit den Elementen der von Larenz entwickelten traditionellen Wertungsjurisprudenz verbinden wollen. Programmatisch ist dabei der Titel „Die Rechtsfindung contra legem", wonach sogar noch dem richterlichen Gesetzesbruch ein Gegenstand der Rechtserkenntnis unterschoben werden soll. Die Dramaturgie des Rührstückes entfaltet sich in drei Akten: im ersten treten die Schurken Relativismus und Nihilismus auf und werfen ihre dunklen Schatten auf die stabil und gesichert scheinende Existenz des Rechts. Im zweiten kommt es zur Krise, worin der Gegenstand der Rechtserkenntnis aufs höchste bedroht erscheint. Aber dann im dritten Akt wird unser Gegenstand zuguterletzt von der Idee der Gerechtigkeit gerettet.

Dieser letzte Akt der Rettung des Rechts nimmt streng nach der Vorgabe der Klassik seinen Ausgang von Artikel 20 III: „Artikel 20 GG bildet die materiale Ergänzung zum rein formalen Justizgewährungsanspruch, indem die Rechtsprechung an das ,Recht', im Sinne von nicht positivierter Gerechtigkeit gebunden wird." Die eigentlich auf das Gewohnheitsrecht bezogene Formulierung 'Recht' wird hier zur materialen Ergänzung überhöht. Aber die angebliche Notwendigkeit dieser Ergänzung ergibt sich erst aus der gewaltsamen Reduktion der Rolle des Gesetzes. Dieses soll den Richter nur dort binden, wo es in seinem eindeutigen Wortlaut den Leitsatz der anstehenden Entscheidung schon vorgibt. Aus dieser jeden praktisch sinnvollen Anwendungsbereich ausschließenden Definition der Gesetzesbindung leitet sich der Begriff der „Lücke" ab. Die Lücke wird dann mit der Vorstellung eines regelungsleeren Raums verbunden, dessen Grundriss daraus entsteht, dass man zunächst die Konkretisierungsfunktion des Gesetzes auf den eindeutigen Wortsinn einschränkt.

Wenn die Strukturierende Rechtslehre demgegenüber von der funktionellen Geschlossenheit der Rechtsordnung im Sinn einer Ergänzung von materiellen Regeln durch Prozessrecht ausgeht, zieht sie aus der Sicht dieses Ansatzes den Vorwurf auf sich, dass der Richter im gesetzesfreien Bereich ohne jede objektive Legitimationsvoraussetzung entscheiden müsse. Daran ist mehreres falsch: einmal reduziert die Strukturierende Rechtslehre die Konkretisierungsleistung des Gesetzes nicht auf den eindeutigen Wortlaut und braucht deshalb einen „gesetzesfreien" Bereich richterlichen Entscheidens gar nicht erst anzunehmen. Zum ändern hat der Richter auch im Bereich des Gesetzes keinen objektiven Rechtsgegenstand als vorgegebene Legitimationsgrundlage, sondern muss diese Legitimation durch Begründung der geschaffenen Rechtsnorm erst herstellen. Für die Strukturierende Rechtslehre ist ein Urteil eine Entscheidung, die zwar durch Anschlusszwänge im juristischen Sprachspiel erschwert wird, die aber niemals als technische Anwendung einer Erkenntnis des objektiv vorgegebenen Rechtsgegenstandes verstanden werden kann. Der Gesetzgeber und die Gerichte sind also strukturell gekoppelt. Das heißt, gesetzgeberische Vorgaben in Form von Normtexten können in Verbindung mit den Vorschriften des Verfahrens und den sprachlichen Anschlusszwängen und Begründungslasten den Entscheidungsvorgang zwar rechtsstaatlich irritieren, aber nicht substantiell vorab determinieren.

Die alte Auffassung will demgegenüber Gesetz und Entscheidung linear kausal miteinander verknüpfen. Das richterliche Sprechen soll auf dem Weg über die Erkenntnis eines präexistenten Gegenstandes determiniert werden; und dort, wo das Gesetz diese Determination nicht leisten kann, soll etwas anderes einspringen. Die Vorstellung, das juristische Handeln funktioniere nach dem Modus der Gegenstandserkenntnis, führt so zur Figur der Lücke und diese zur Ersetzung des Gesetzes durch die Gerechtigkeit. Die Rechtsordnung ist von außen, gemessen am gesellschaftlichen Regelungsbedarf unvollständig; aber von innen zugleich vollständig, weil nur der normativ anerkannte Regelungsbedarf der Gesellschaft juristisch relevant ist und die richterliche Entscheidung immer nur am geltenden Recht gemessen werden kann. Von einer „Lücke" kann man dagegen nur sprechen, wenn man ein Problem entgegen dem Gesetz als regelungsbedürftig ansieht. Dies lässt sich dann begründen, wenn man einen normtranszendenten Maßstab von Gerechtigkeit heranzieht, der so im Gesetz gerade (noch) keinen Ausdruck gefunden hat.

Schon der Begriff der „Lücke" setzt einen für den Richter verfügbaren Bezug zur Gerechtigkeit als überpositives Prinzip voraus. Dieser schon dem Begriff eigene Bezug zur gesetzestranszendenten Gerechtigkeit dient nun auch zur hastigen Auffüllung des Leerraums. Die „Lücke" ist für die herkömmliche Theorie „Quelle" für ein Mehr an Recht, welches sogar das geschriebene Gesetz soll korrigieren können.

Es ist die praktische Unmöglichkeit, das Modell einer linear kausalen Determination richterlichen Sprechens durch das Gesetz einzulösen, welche die alte Schule zur Entwicklung einer dualistischen Konzeption der Rechtsarbeit zwingt. Danach gibt es einerseits die festen Regeln des Gesetzespositivismus, welche die Reichweite der Gesetzesbindung definieren; und andererseits einen Bereich der Rechtsfortbildung, in dem die Regeln des Gebrauchs gesetzlicher Begriffe erst hergestellt werden müssen. Mit der Behauptung einer noch hinter dem Gesetzestext liegenden zweiten und höherrangigen Ordnung der Gerechtigkeit soll der Bereich der Rechtsfortbildung aber schließlich doch wieder in ein Subsumtionsmodell auf erweiterter Grundlage eingeschrieben werden. Damit die bleibt die herkömmliche Auffassung im paradigmatischen Rahmen der vom Gesetzespositivismus entwickelten statischen Rechtsanwendungslehre. Die dynamischen Prozesse der Rechtsverwirklichung gelten nur als vordergründiges Gewimmel, hinter dessen scheinbarer Zufälligkeit für den Kenner die gerechte Ordnung sichtbar wird.

JM I, Rn. 143 ff.
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