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Leitsatz |
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Mit der von der Strukturierenden Rechtslehre vorgeschlagenen Rechtsnormtheorie ist der Gesetzespositivismus verabschiedet; und es wird festgehalten, dass die Rechtsnorm als tragender Leitsatz der Entscheidung vom Rechtsarbeiter jeweils erst hergestellt wird. Entsprechend der wissenschaftsgeschichtlichen Bewegung, die sprachtheoretisch vom Sprachsystem zum sprachlichen Handeln führt, ist die Frage nach den Bindungen praktischer Rechtsarbeit damit von der illusionären Spekulation über eine vorgegebene Bedeutung des Normtextes befreit und in den konkreten Prozessen juristischer Argumentation neu gestellt. Gesetzesbindung bezieht sich nicht auf eine der Anwendung vorgegebene Rechtsnorm, sondern stellt sich dar als methodische Erschwerung und Disziplinierung im Vorgang der Herstellung der Rechtsnorm.
Unter „Normativität" wird dabei, wie gesagt, durchgängig keine innewohnende Eigenschaft eines Gesetzestexts oder einzelner Tatbestandsausdrücke verstanden. Wenn hier also gleichwohl bestimmte Textstufen der juristischen Entscheidungsarbeit - im Gegensatz zu anderen - als „normativ" bezeichnet werden, dann heißt das nur, der betreffende Text sei professionell bereits so weit ausgearbeitet, so weit „konkretisierend" fortentwickelt, dass wir nunmehr verbindlich etwas „mit ihm machen", dass wir ihn jetzt tatsächlich ausführen können: indem etwa ein Richter aus dem Text der („normativen") Rechtsnorm, die er erstellt hat, nunmehr durch einfache Subsumtion die Entscheidungsnorm ableitet; bzw. indem der Ausführungsstab der Justiz- (oder im Fall exekutivischer Entscheidung der Verwaltungs-)organe die Entscheidungsnorm, sobald sie rechts- bzw. bestandskräftig ist, in den positivrechtlich vorgesehenen Formen vollstreckt.
„ Normativität" in diesem Sinn zeichnet also noch nicht die Normtexte aus; wohl aber die (im Fall erarbeiteten leitsatzartigen) Texte von Rechtsnormen für die ihnen zuzuordnende Fallgruppe; und ferner die aus ihnen abgeleiteten Texte der Entscheidungsnormen für den je vorliegenden und damit entschiedenen Rechtsfall.
Weder der Normtext noch der zu regelnde Sachverhalt sind voneinander ablösbar. Beide liefern auf verschiedene, aber komplementäre Art die für die Rechtsentscheidung erforderlichen Elemente. Weder ein Normtext noch eine früher in Verbindung mit ihm formulierte Rechtsnorm (Leitsatz) allein machen ein juristisches Problem zu einem aktuellen. Jede Konkretisierung arbeitet schon in einfach gelagerten Fragen mit einem wirklichen oder einem erdachten Rechtsfall. Der Fall gibt den Anstoß zur Konkretisierung der Vorschrift und liefert zugleich in diesem Vorgang nach dem Maß des Widerstandes, den er den verschiedenen Lösungsalternativen entgegensetzt, und ferner nach der Art seiner praktischen Fragestellungen, von denen die Konkretisierung herausgefordert wird, unverzichtbare Sachgesichtspunkte für das Ausarbeiten der rechtlichen Lösung. Jede Rechtsfrage tritt in Form eines wirklichen oder erdachten Falls auf. Jeder Normtext ist im Hinblick auf einen von ihm (mit) zu lösenden Fall sinnvoll oder nicht sinnvoll. Dieser Grundtatbestand juristischer Konkretisierung umschreibt das für Rechtswissenschaft und Rechtspraxis eigentümliche, das spezifisch juristische Erkenntnisinteresse als ein Entscheidungsinteresse. Das hat nichts mit „Interessenabwägung" und ähnlichen Vorstellungen zu tun. Es bezeichnet den durch die sachliche Selbständigkeit der Rechtswissenschaft gegenüber den sich so nennenden Geisteswissenschaften bestimmten Horizont juristischer Arbeitsaufgaben und Methodenhaltung. Die Notwendigkeit einer Rechtsentscheidung (auch derjenigen eines erdachten Falls) umschließt zwar die Verstehens-Problematik, die kognitiven Momente und Verfahren, die von juristischer Methodik mit gleichem Nachdruck wie die über Kognition hinausgehenden zu entwickeln sind. Die Rechtsentscheidung erschöpft sich aber schon funktionell nicht in ihren kognitiven Teilen. Sie zielt über die im allgemein geisteswissenschaftlichen Sinn „hermeneutischen" Fragen des Verstehens hinaus. Es ist übrigens klar, dass das Verhältnis der kognitiven und der nicht-kognitiven Elemente im Konkretisierungsvorgang je nach der ausgeübten juristischen Funktion wechselt und dass beispielsweise das kognitive „Erkenntnis"interesse bei wissenschaftlicher Konkretisierung angesichts eines erdachten Sachverhalts deutlich in den Vordergrund tritt.
Im rational organisierten und demokratisch entwickelten Rechtsstaat wird dagegen das Zwischenglied der vom Rechtsarbeiter abstrakt und generell zu formulierenden Rechtsnorm zur nunmehr allgemeinen, d. h. verallgemeinerungsfähigen Legitimation gebraucht und daher in Form eines abstrakt/generell vertexteten und niedergeschriebenen „Leitsatzes" als zusätzliche Textstufe eingeschaltet. Die dafür typische Textabfolge lautet (unter Überspringen der weiteren Stufen von Normprogramm- und Normbereichstexten): „Wer das und jenes tut, wird so und so bestraft" (Normtext) - „In einem Fall wie diesem ... muss - wer auch immer - stets so bestraft werden" (Text der Rechtsnorm) - „Da es sich vorliegend um einen derartigen Fall handelt, wird der Angeklagte so bestraft" (Text der Entscheidungsnorm).
Wenn man schon, aus welchem Grund auch immer, die Vorgänge nach „Finden" und „Rechtfertigen" strikt trennen möchte, wäre es - formal gesehen - sinnvoller, das Ergebnis als „frei" (intuitiv, aus „Judiz", aus fachlich-praktischer Erfahrung, im Einzelfall vielleicht auch noch aus weniger ehrenhaften Quellen) „findbar" anzunehmen und den anschließenden gesamten Konkretisierungsvorgang als „Instanz" der Bewährung oder Verwerfung einzuführen. Unter „Ergebnis" kann dabei entweder das individuelle Endergebnis, der Tenor, verstanden werden („Diese Klage muss einfach Erfolg haben", „Dieser Angeklagte darf doch nicht verurteilt werden" - Entscheidungsnormhypothesen); oder aber die im Sinn eines vorweg entworfenen Leitsatzes allgemein formulierbare, für „einen Fall wie diesen" gültige Textfassung der Entscheidung (Rechtsnormhypothese). Für die erste Version brauchte man nicht den - woanders herkommenden und hier grundsätzliche Schwierigkeiten aufwerfenden - Falsifikationismus zu bemühen; der Vorgehenstypus „Ergebnis aufgrund von Judiz, anschließendes Nachreichen der rhetorischen, im besseren Fall der dogmatischen Begründung" war schon unseren juristischen Altvorderen geläufig und wert. Wegen der institutionellen Begrenztheit der Zahl vorwegnehmbarer Ergebnisse (verurteilt/freigesprochen, verfassungsmäßig/verfassungswidrig, Klage zulässig/Klage unzulässig, usw.) kann das Endergebnis aber meist auch von Laien nach dem „Rechtsgefühl" oder Wahrscheinlichkeitsregeln vorab getroffen werden. Mit den methodisch durchzuspielenden Teilschritten der Einzelausarbeitung der Argumentationskette - zweite Version von „Ergebnis" -geht das jedoch nicht; sie sind aber auch für das fachliche Judiz oft zu komplex oder zu materialreich. Das Konkretisieren in methodischer Fein-Einstellung muss wegen der rechtsstaatlichen Begründungspflichten ohnehin noch erfolgen - auch dann, wenn in dieser zweiten Variante eine Rechtsnormhypothese eingangs entworfen oder geahnt worden sein sollte.
JM I, Rn. 215, 227, 267, 296, 573 |
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