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Legitimität der Verfassungsordnung |
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Für die „verfassunggebende Gewalt" liegt die Konkretisierung der Verantwortlichkeit vor dem Volk im Festhalten an den als legitim akzeptierten Normen, Institutionen und Grundsätzen der Verfassungsordnung, die nach ständiger Aktualisierung verlangen. Für die sonstigen Staatsgewalten liegt die Konkretisierung der Verantwortung vor dem Volk darin, diesen Anforderungen der verfassunggebenden Gewalt nachzukommen. Angesichts der Erwartungen, die unter dem Aspekt verfassunggebender Gewalt an die praktisch verwirklichte Verfassungsordnung gestellt werden, erweist sich diese als durchgehend normativ strukturiert. Verfassunggebende Gewalt als sachlicher Kernbestand der Verfassung und die übrigen verfassungsrechtlichen Normen stehen im Verhältnis des Fundaments zu den ins einzelne gehenden Aktualisierungen, nicht aber in dem einer sachleer-dezisionistischen Isolierbarkeit. Beide, der verfassungsrechtliche Normenkern und die Verfassungsrechtsordnung im ganzen, sind in der Zeit normativ. Sie sind zwei verschiedene Aspekte von Legitimität als eines geschichtlich zu realisierenden normativen Anspruchs des Verfassungsstaats.
Somit ist die Frage nach Legitimität eine Frage nach Normen. Sie ist die Frage nach einem sachbestimmten Ordnungsmodell, nach einem Gestaltungs- und Tätigkeitsentwurf staatlicher Organisation. Legalität ist gegen Legitimität auf dem Boden der hier entwickelten Theorie der Rechtsnorm nicht ins Feld zu führen, solange die Konkretisierungen verfassunggebender Gewalt in Verfassungsgesetzgebung, Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung, Rechtsprechung und im „Verfassungsleben" insgesamt auf dem Boden des normativen Legitimitätskerns bleiben. Herkömmliche Interpretation der Verfassungsgesetzestexte wie umfassende Konkretisierung der Verfassungsnormen mit Hilfe der hier vorgeschlagenen Strukturierenden Methodik lassen somit keine Möglichkeit, berechtigtermassen Legalität gegen Legitimität oder Legitimität gegen Legalität zu Lasten der normativen Kraft der positiven Verfassung auszuspielen, solange der normative Kern (den Art. 79 Abs. 3 GG unter dem Teilaspekt der Verfassungsänderung zu formulieren versucht) gewahrt bleibt.
Die Frage der Legitimität stellt sich auch mit Blick auf den hier gegebenen Begriff der (vom Rechtsarbeiter jeweils erst zu konstruierenden) Rechtsnorm. In einer rechtsstaatlich unentwickelten (archaischen oder diktatorischen) Ordnung bedarf es keiner „Rechtsnorm". Dort genügen
(1) im Gewohnheitsrecht die tradierten Formeln (die keine „Normtexte" sind) zusammen mit dem Ausspruch der Entscheidung des vorliegenden Rechtsfalls; beziehungsweise
(2) in nicht-rechtsstaatlichen Ordnungen mit Kodifikationen (sei es historisch früh, wie schon in der sumerischen Polis, sei es in Diktaturen) die fraglichen Normtexte, ergänzt durch den Ausspruch der Entscheidung.
In diesem zweiten Falltypus gibt es zwar geschriebene Gesetze, aber keinen Verfassungsstaat mit Rechtsstaatsnormen, auch nicht den entwickelten Zusammenhang: politische Demokratie - Rechtsstaat - rechtsstaatlich rationalisierte Rechtsmethodik. Eben dieses verfassungsrechtliche Umfeld, das hier noch fehlt, macht die „Rechtsnorm" im demokratischen Rechtsstaat vom Typus des Grundgesetzes notwendig und funktional.
In den beiden vorgenannten Typen von Staatswesen trägt die Entscheidung sei es persönliches Charisma oder traditionale Legitimierung im ersten, sei es die bereits kodifizierte Autorität bzw. der diktatorische Gewaltzusammenhang im zweiten Fall.
Immer aber legitimiert die Einzelfallentscheidung als solche; sei es durch diese Richterperson (Gewohnheitsrecht mit zum Teil auch noch charismatischer Legitimierung), sei es durch einen richterlichen Funktionsträger (frühe Rechtsordnung mit Kodifikationen), sei es durch einen Funktionär der Diktatur. Die typische Textabfolge kennt nur zwei Stufen: „Wer das und jenes tut, wird so und so bestraft" (Gewohnheitsrechtsformel oder bereits kodifizierter Normtext) - „Der Angeklagte wird so bestraft" (Entscheidungsformel).
Im rational organisierten und demokratisch entwickelten Rechtsstaat wird dagegen das Zwischenglied der vom Rechtsarbeiter abstrakt und generell zu formulierenden Rechtsnorm zur nunmehr allgemeinen, d. h. verallgemeinerungsfähigen Legitimation gebraucht und daher in Form eines abstrakt/generell vertexteten und niedergeschriebenen „Leitsatzes" als zusätzliche Textstufe eingeschaltet. Die dafür typische Textabfolge lautet (unter Überspringen der weiteren Stufen von Normprogramm- und Normbereichstexten): „Wer das und jenes tut, wird so und so bestraft" (Normtext) - „In einem Fall wie diesem ... muss - wer auch immer - stets so bestraft werden" (Text der Rechtsnorm) - „Da es sich vorliegend um einen derartigen Fall handelt, wird der Angeklagte so bestraft" (Text der Entscheidungsnorm).
Auch unter dem speziellen Aspekt der im Einzelfall erst zu erzeugenden Rechtsnorm legitimiert nur, was verallgemeinert werden kann; ist Legitimität an die rationale Allgemeinheit der europäischen Aufklärung, an Kommunizierbarkeit, Nachvollziehbarkeit, Einsichtigkeit gebunden. Moderne Diktaturen oder sonstige autoritäre Gemeinwesen der Neuzeit sind, auch unter diesem Gesichtspunkt, Rezidive, sind Rückfälle in den Typus der Legitimation in actu (Einzelentscheider, Einzelfall) ohne Rücksicht auf die Generalisierbarkeit und damit auch auf die Schriftlichkeit, die Textlichkeit ihrer Gründe. In den Rechtsstaaten bietet das Institut der Gnadenentscheidung das Beispiel eines archaischen Relikts, bestimmten (in diesem Fall symbolisch überhöhten, pseudo-charismatischen) Funktionären an der Staatsspitze rechtlich überantwortet und - im Unterschied zur gesetzlichen Amnestie personal gefärbt, diskretionär, sich in actu selbst rechtfertigend. Die rechtspolitischen Versuche, das Begnadigungsrecht an gesetzlich formulierte Voraussetzungen und Maßstäbe zu binden, wollen den Archaismus, der in diesem Rechtsinstitut fortbesteht, sozusagen rechtsstaatlich aufholen.
JM I, Rn. 293 ff. |
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