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methodologischer Konflikt |
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Von Konflikten zwischen einzelnen Konkretisierungselementen ist nur dort zu sprechen, wo ein frontaler Gegensatz auftaucht; also nicht dort, wo z.B. das historische Element zwei oder mehrere Möglichkeiten offenläßt, von denen nur eine mit der grammatischen Auslegung vereinbar ist. Dann besteht nur in dieser einen partiellen Hinsicht ein Widerspruch, nicht zwischen „dem“ grammatischen und „dem“ historischen Auslegungsaspekt.
Ein Konflikt besteht ferner nur zwischen solchen Elementen, die im vorliegenden Fall und im gegenwärtigen Stadium des Konkretisierungsvorgangs tatsächlich ergiebig, aussagekräftig sind. Andernfalls ist das als nichtssagend erwiesene Element in der Folgezeit auszusparen. Keineswegs müssen - und das zeigt alle praktische Erfahrung - etwa sämtliche Konkretisie-rungsaspekte in jedem Fall herangezogen und aktualisiert werden können.
Kein methodologischer Konflikt ist gegeben, wo die Divergenz aufgrund einer Hierarchie der Rechtsquellen aufzulösen ist: Verfassungs- und Unterverfassungsrecht, Europarecht und nationales Recht. Die Fälle der verfassungs- und der gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation gehören also nicht hierher.
Bei Konflikten zwischen verfassungspolitischen, lösungstechnischen Theorie-Elementen und zwischen dem nicht unmittelbar normtextbezogenen Teil der dogmatischen Argumente gibt es weder Vorrangstellungen noch Präferenzregeln. Diese Aspekte sind eben nur methodische Hilfsmittel ohne direkte Normtextorientierung. Innerhalb ihrer rechtlichen Unverbindlichkeit sind fixierbare Stufen größerer oder geringerer Verpflichtungswirkung für die konkretisierende Stelle nicht unterscheidbar. Auch für sie gilt jedoch in gleicher Weise das rechtsstaatliche Gebot der Begründung und Darstellung auf erstens vollständige und zweitens rational kontrollierbare Art.
Die genannten Elemente können im Einzelfall danach abstufbar sein, welche Lösung sich „besser“, „richtiger“, „einleuchtender“, „eindeutiger“ oder „zweckmäßiger“ mit den Teilergebnissen der direkt normtextbezogenen Faktoren oder mit der Grenzfunktion der Normtexte vereinbaren läßt. Bei diesen Auswahlvorgängen handelt es sich um Wertungen, deren normgelöster Charakter weder vermeidbar ist noch verschleiert werden darf. In der Begründung muß hervorgehoben und bezeichnet werden, welche Denk- und Auswahloperationen jeweils durch solche und vergleichbare Wertungen bestimmt sind.
Eine pragmatische Abstufung kann sich im Einzelfall zum Beispiel auch dadurch ergeben, daß alle Argumente außer einem einzigen sachlich in dieselbe Richtung weisen. Doch können auch solche unverbindlichen Auswahl- und Abstufungsgesichtspunkte weder methodisch fixiert noch quasinormativ verallgemeinert werden.
Die unmittelbar normtextbezogenen Konkretisierungselemente (methodologische i.e.S., Normbereichs- und einzelne dogmatische Elemente) gehen den nicht direkt normtextbezogenen (ein Teil der dogmatischen, ferner lösungstechnische, verfassungspolitische und Theorie-Elemente) im Fall des Widerspruchs vor. Diese Vorzugsregel ist normativ. Sie folgt aus der durch die geltende (Verfassungs-) Rechtsordnung statuierten Verfassungs- und Rechtsgebundenheit staatlicher Funktionsausübung. In einem weiteren, weil nach geltendem Recht nicht praktisch sanktionierbaren Sinn gilt das auch für die Rechtswissenschaft, soweit sie normtextorientiert arbeitet.
Im Fall des Konflikts gehen die methodologischen und die Normbereichs-Elemente vor, insoweit durch sie belegt werden kann, daß die früher von Praxis und Wissenschaft gebildeten und durch die herangezogenen dogmatischen Aussagen tradierten Rechtsnormen die für den anstehenden Fall mit Hilfe desselben Normtextes zu konkretisierende Rechtsnorm nicht betreffen. Die Mühe der Konkretisierung muss dann ohne Hilfe früherer Normbildung neu ansetzen.
Die erste Stufe der Disziplinierung von Sachgehalten normativer Regelungsfelder bestand in der Auswahl der empirischen Gegebenheiten aus Sachbereich und Fallbereich, die ihrerseits orientiert am Sachverhalt und am herangezogenen Normtext gewonnen worden waren, zum Normbereich; das Normprogramm diente dabei als verbindlicher Maßstab.
Das vorausgesetzt, sind die Normbereichselemente für die positive Inhaltsbestimmung der zu entwickelnden Rechts- und Entscheidungsnorm den Elementen der Textinterpretation gleichrangig. Negativ, d. h. für die Bestimmung der Grenze zulässiger Ergebnisse, haben aus rechtsstaatlichen Gründen die am unmittelbarsten und ausschließlichsten auf Normtexte bezogenen Interpretationselemente, also die grammatische und systematische Auslegung, Vorrang vor allen anderen, auch vor den Elementen des Normbereichs. Im Sinn der Abgrenzung und Begrenzung steuert das anknüpfend an den amtlichen Wortlaut gewonnene Normprogramm nicht nur den Vorgang der Auswahl von Sachgesichtspunkten aus dem allgemeinen Regelungsbereich der Vorschrift (Sachbereich) und aus dem Fallbereich zum Normbereich, sondern den gesamten Vorgang der Konkretisierung. Aus demselben Grund wird eine Kollision von Normbereichselementen mit den im Einzelfall das Normprogramm ergebenden Sprachdaten nicht aktuell. Es ist nicht etwa so, daß in Konflikten zwischen Konkretisierungsfaktoren jeweils die Realdaten „ihren“ Sprachdaten, das heißt jenen folgen würden, mit deren Hilfe sie aus dem Sachbereich ausgewählt und im Rahmen des Normbereichs zur Erstellung der Rechtsnorm herangezogen worden sind. Das Normprogramm in seiner verbindlichen Formulierung ist vielmehr bereits ein Gesamtergebnis aus den einschlägigen sprachlichen Konkretisierungselementen - sei es im Sinn der Konvergenz, sei es im Fall methodologischer Konflikte aufgrund von Präferenz. Diesem Gesamtergebnis als dem Maßstab für die Qualifizierung der Realdaten folgt dann inhaltlich der Normbereich. Die Auswahl der Realdaten zum Normbereich fügt sich der vorherigen Formulierung der Sprachdaten insgesamt, dem Normprogramm.
Wegen seiner demokratischen Erzeugung sowie der rechtsstaatlichen Klarheits- und Bestimmtheitsgebote ist der Normtext der im Konfliktsfall als Grenzbestimmung zulässiger Entscheidungsmöglichkeiten vorrangige Bezugspunkt der Konkretisierung. Der Wortlaut ist nicht das Gesetz, sondern als Eingangsdatum des Entscheidungsvorgangs eine Vorform des Gesetzes. Es ist jedoch der Wortlaut, im Ausgang von welchem - bei aller Unabgeschlossenheit sprachlicher Umsetzung - das als sachliche Direktive wie als normative Grenze verbindliche Normprogramm vom Juristen erarbeitet wird. Damit liegt im Zweifel das Schwergewicht bei den Interpretationselementen, die Normtexte (den Wortlaut der zu konkretisierenden Vorschrift wie auch die Wortlaute systematisch herangezogener Vorschriften) bearbeiten. Zurückzutreten haben die Faktoren der Auslegung, die sich auf Nicht-Normtexte beziehen (genetische und historische Auslegung; ferner die lösungstechnischen, dogmatischen, verfassungspolitischen und die Theorie-Elemente). Dieser Vorgang entstammt nicht rechtstheoretischen oder methodologischen Überlegungen, nicht philosophischen „Höherwertigkeiten“ oder geisteswissenschaftlichen Präferenzen. Weder gibt es solche Präferenzen mit dem für praktische Konkretisierung erforderlichen Grad von Bestimmtheit, noch wären sie auf Rechtswissenschaft und Rechtspraxis übertragbar. Der Vorrang folgt vielmehr aus den rechtsstaatlichen Geboten der Unverbrüchlichkeit der Verfassung, der Bindung an Gesetz und Recht, der Rigidität des Verfassungsrechts im Sinn seiner Normtext-Klarheit, ferner aus den Geboten der Normklarheit und Tatbestandsbestimmtheit, der Methodenklarheit, der Rechtssicherheit und der verfassungsrechtlich normierten Funktionsabgrenzungen. Diese Gebote gehören zum anerkannten ungeschriebenen Verfassungsrecht im Umkreis des Rechtsstaatsprinzips; zum Teil sind sie auch in einzelnen Vorschriften des Grundgesetzes spezialgesetzlich normiert (z. B. Art. 19 Abs. l Satz 2, Art. 79 Abs. l Satz l, Art. 80 Abs. l Satz 2 GG). Gleichwertig daneben steht die Tatsache der Produktion der Normtexte im demokratisch geformten politischen Prozeß. Schließlich gehören auch die verfahrensrelevanten Verfassungsvorschriften, welche die Subjektqualität der Beteiligten, Waffengleichheit und Fairness anordnen, mit zu denen, die eine fühlbare Gesetzesbindung begründen.
Im Zweifel gehen somit die Teilergebnisse der grammatischen und systematischen Interpretation denen der ändern Konkretisierungselemente vor. Abweichende Aussagen zwischen historischen und genetischen Aspekten sind im Sinn einer Vorzugsregel nicht entscheidend, da sich beide auf die Interpretation von Nicht-Normtexten beziehen. Die Entscheidung kann dann nicht partiell durch Auseinandersetzung zwischen historischer und genetischer Auslegung, sondern im Zusammenhang der gesamten Konkretisierung, d. h. zusätzlich am Leitfaden der ändern Elemente und besonders der grammatischen und der systematischen Auslegung gefunden werden. Das Spannungsverhältnis zwischen historischen und genetischen Argumenten ist, für sich allein genommen, nicht tragfähig genug.
Soweit mit den Mitteln historischer und genetischer Auslegung auf Sachbestandteile des Normbereichs hingewiesen wird, die auf diesem Weg ins Spiel kommen, sachlich aber selbständige Bedeutung entfalten, sind sie wie die erörterten Normbereichselemente im allgemeinen zu behandeln.
JM I, Rnn. 439 f. |
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