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in claris non fit interpretatio |
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Unklar ist, wie dieser Grundsatz verstanden werden soll. Im pragmatischen Sinn könnte man ihn als Ratschlag verstehen, wenn Klarheit herrscht, diese nicht mit Interpretationen zu stören. Diese Regel wäre sinnvoll. Denn man braucht Juristen zur Konfliktentscheidung und nicht zur Erzeugung von Konflikten. Auch beim EuGH kann man die pragmatische Vorgehensweise erkennen, den Wortlaut nur dort zu thematisieren, wo im Verfahren wirklich darum gestritten wurde. Die methodische Literatur versucht aber, diese pragmatische Regel in einem starken semantischen Sinn zu verstehen. Sie sei so aufzufassen, dass es Normtexte gebe, die so klar seien, dass sie nicht mehr interpretiert werden könnten.
Semantische Behauptungen müssen aber einlösbar sein. Der Begriff "Klarheit" ist zunächst kein Stichwort der Linguistik. Allerdings wurde einer seiner Gegenbegriffe von der sogenannten Philosophie der idealen Spracheverwendet. Es ist dies der Begriff der Vagheit. Bis in den Anfang der 70er Jahre hinein wurde er auch in der Linguistik manchmal erwähnt oder diskutiert. Aber selbst Max Black, der mit seinem Essay "Vagueness" diesen Ausdruck prominent machte, betonte von Anfang an, dass Vagheit nicht eine Eigenschaft bestimmter Worte oder Texte ist. Sie ist vielmehr ein unvermeidliches Merkmal jeder natürlichen, das heißt nicht künstlichen, etwa für die Zwecke der Logik konstruierten Sprache. Nur weil Sprache nicht klar und eindeutig ist, kann sie überhaupt auf ständig neu entstehende Situationen Anwendung finden. Einzig in einer bestimmten Lage kann Sprache für einige Beteiligte hinreichend deutlich sein. Daher ist es nicht sinnvoll, "klare" Äußerungen oder Texte den "vagen" entgegenzusetzen. Jeder Text kann prinzipiell interpretiert werden, eine situationsunabhängige Klarheit ist nicht denkbar. Daraus folgt dann aber auch, dass man nicht nach mehr oder weniger Klarheit unterscheiden kann. Auch mehr oder weniger "klar" sind Texte nicht für sich allein, sondern nur in einer Situation für bestimmte Beteiligte. Und natürlich ist es für diese Beteiligten auch immer ihre eigene Lesart, die ihnen als die klarste gilt. Tatsächlich erscheinen in der Alltagskommunikation die Bedeutungen oft als klar; aber nur deswegen, weil eine Überprüfung dieser Unterstellung entweder nicht erfolgt oder von den Beteiligten auf später verschoben wird. Die Problemlosigkeit der Alltagskommunikation ist aber gerade nicht die Situation, über die Juristen entscheiden müssen. Wenn Juristen angerufen werden, ist Bedeutung schon streitig. Der Text, mit der ihre Arbeit begonnen hat, weist gleichzeitig “zuviel an Klarheit“, nämlich mehrere sich gegenseitig ausschließende Lesarten auf, und “zu wenig an Klarheit“. Denn die Sprache liefert keinen Maßstab für die Entscheidung zwischen den jeweils für sich klaren Lesearten.
Semantisch interpretiert, ist die Klarheitsregel also keine sinnvolle Strategie. Wenn der EuGH dieser Regel folgen würde, so wäre dies nur eine sprachliche Fassade für Dezisionismus.
JM II, S. 26 f. |
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