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Recht&Sprache Recht und Sprache
Linguistik Rechtslinguistik: Sprache des Rechts
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Stellenwert grammatischer Auslegung
Die Leistung des Wortlauts wird von der europarechtlichen Literatur fast durchgängig unterschätzt: „Die Eigentümlichkeiten des Gemeinschaftsrechts bedingen allerdings nicht unbeträchtlich Abweichungen hinsichtlich der Bedeutung und Gewichtung der unterschiedlichen Interpretationsmittel. So kommt dem Wortlautargument wegen der Existenz und prinzipiellen Gleichrangigkeit der verschiedenen Sprachfassungen der auszulegenden Normen eine vergleichsweise eingeschränkte Bedeutung zu.“ (Wegener, B., Art. 220) Häufig wird auch gesagt, dass der Gerichtshof mit einer Aussage über den Wortlaut lediglich beginne, diesen Einstieg jedoch schnell hinter sich lasse. Sein Ergebnis finde er dann mit Hilfe anderer Methoden. Eine empirische Analyse der EuGH-Rechtsprechung zeigt jedoch, dass dies nicht zutrifft. Der EuGH verwendet das Wortlautargument nicht nur sehr häufig, sondern vor allem verwendet er es nicht als bloßen Einstieg. Der Wortlaut steht vielmehr nach Ausschöpfung aller anderen Canones als Argumentationsziel auch wieder am Ende. Eine Inhaltsanalyse der EuGH-Begründungen des Jahrgangs 1999 kommt bezüglich der Einschätzung des Stellenwerts grammatischer Auslegung zu folgendem Ergebnis: "In der Literatur wird überwiegend vertreten, dass der EuGH der grammatischen Auslegungsmethode nur geringe Bedeutung beimesse. Diese Annahme findet sich nach dem Ergebnis der vorliegenden Untersuchung indes nicht bestätigt. So enthalten von den 259 Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 nur 75 keine grammatikalische Auslegung, d. h. in 70 % der Entscheidungen des Jahrgangs 1999 argumentiert der EuGH mit der grammatikalischen Methode. In der Regel argumentiert der EuGH in einer Entscheidung ein- oder zweimal mit der grammatikalischen Methode. Daneben gibt es jedoch auch Entscheidungen mit drei bis fünf, seltener Entscheidungen mit mehr als fünf grammatikalischen Argumenten. (...) Die grammatikalische Auslegung ist, bezogen auf alle Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999, unter den 'klassischen' Auslegungscanones die häufigste Argumentationsform. Sie wird 569-mal und damit etwa doppelt so häufig verwendet, wie die zweithäufigste Argumentationsform, die teleologische Auslegung, die 234-mal herangezogen wird, und mehr als fünfmal so häufig, wie die systematische und die historische Auslegung, auf die sich der EuGH 105-, bzw. 114-mal beruft. Genetisch argumentiert der EuGH in den Entscheidungen des Jahrgangs 1999 ohnehin nur 20-mal."

Die eklatante Fehleinschätzung der grammatischen Interpretation erklärt sich aus der eigenartigen juristischen Sprachtheorie: „Bei - vorhandenen - Divergenzen des Wortlauts ist zunächst zu versuchen, die richtige Bedeutung im Sinne einer wörtlichen, sprachvergleichenden Interpretationdurch einen Vergleich der Sprachfassungen zu eruieren (...). Ist diese semantische Interpretation nicht zielführend, so ist der Auslegung Ziel und Zweck des Vertrags zugrunde zu legen, wobei vom Prinzip 'in dubio pro communitate' auszugehen ist.". Die grammatische Auslegung soll demnach zur „richtigen“ Bedeutung führen. Aber den sprachlichen Anforderungen ist schon Genüge getan, wenn die fragliche Äußerung verständlich ist. Ob eine Bedeutung "richtig" ist, bedarf erst einer normativen Bewertung. Diese kann nicht das Wortlautargument liefern. Sie kann nur im Weg einer detaillierten sprachlichen Analyse aus den Anschlußzwängen eines bestimmten Sprachspiels begründet werden. Diese gegebenenfalls schwierigen Begründungslasten tauchen aber erst gar nicht auf, wenn man auf die alte Art die Frage nach der richtigen Bedeutung schlicht als Problem der grammatischen Auslegung behandelt. So zeigt sich die sprachtheoretische Prämisse, es gehe bei der grammatischen Auslegung um die richtige Bedeutung, als der zentrale Zug der klassischen Lehre. An die Stelle einer sprachlichen Untersuchung tritt die Sprache als Legitimationsinstanz. Daran sieht man deutlich, dass Rechtstheorie und juristische Methodik durchaus kein Glasperlenspiel sind, sondern ihren Ort mitten in der dogmatischen Praxis haben. Ohne Reflexion betreibt man nicht etwa Praxis, sondern man wendet blind eine überholte Theorie an. Das gilt gerade auch für die juristische Methodenlehre, von der man zu Recht sagt, dass sie sich „nicht mit exotischen Randphänomenen beschäftigt, sondern mit dem täglichen Brot der Rechtsanwendung.“

Die Jurisprudenz hat nicht ausschließlich das Recht zum Gegenstand, sondern repräsentiert auch Teile der anderen Geistes- oder Sozialwissenschaften in ihrem Inneren. Vorliegend geht es um die den juristischen Entlastungsbedürfnissen dienende Sprachtheorie. Die Vorstellung, es gebe "die richtige Bedeutung", welche die Arbeit der Gerichte stabilisieren könnte, ist in Sprachtheorie und Linguistik längst überholt. Sie hat aber, und deswegen wird sie noch zu diskutieren sein, in der Rechtspraxis eine beträchtliche Entlastungsfunktion.

Die Unterschätzung des Wortlautarguments in der Literatur erklärt sich aus der simplen Sprachtheoriekonzeption, die hinter der Komplexität der gerichtlichen Praxis weit zurückbleibt. Hier wird der Wortlaut ausgeschaltet, indem man zu viel von ihm verlangt. Die semantische Interpretation soll zu einer Bedeutung führen, und diese soll nicht nur verständlich, sondern auch noch "richtig" sein. Der Wortlaut kann diese Forderung natürlich nicht erfüllen. Er liefert verständliche Bedeutungen als Lesarten des Normtextes, aber nicht die einzige richtige, sondern eine Vielzahl von konfligierenden. Daraus kann man aber nicht folgern, er sei als bloßer Einstieg irrelevant. Wenn man den Wortlaut vor die Drohung „richtige Bedeutung oder Leben!“ stellt, dann verliert er im Ernstfall der Argumentation immer sein Leben. Tatsächlich ist er aber als Lieferant von Lesarten und vor allem als Ziel juristischer Argumentation unverzichtbar.

JM II
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