- Sprache und Gewalt
start Technische Hinweise glossar • • • lectures schemata suche sitemapimpressum
Recht&Sprache Recht und Sprache
Linguistik Rechtslinguistik: Sprache des Rechts
register
Sprache und Gewalt
Im besten Fall ist ein Normtext eine ernst „gemeinte" Momentaufnahme des politisch-juristischen Stellungskriegs; er ist in der Tat kein „Ursprung". Und dennoch verlangt der demokratische Rechtsstaat, den Normtext als Ursprung zu fingieren: als gewaltgestützte Fiktion eines Ursprungs, um einen im Sinn des Staats verbindlichen Anfangs- und Maßpunkt für die vom Staat durchgeführten Entscheidungsvorgänge vorweisen zu können. Jedenfalls sagt dies das noch immer herrschende positivistische Paradigma. Für die Strukturierende Rechtslehre ist der Normtext nur Eingangsdatum; und zwar eines Vorgangs der Konkretisierung, durch den eine Rechtsnorm erst konstruiert wird. Dagegen mystifiziert der Gesetzespositivismus den Normtext zur „Norm", fingiert er einen vorgegebenen Ursprung.

Die im Staat akkumulierte, durch seine Verfassung und Gesetze organisierte, die ihn ausmachende Gewalt stützt diese Fiktion und ihre Sanktionierung ab, ist aber selber zugleich von derartigen fingierenden und sanktionierenden (Norm-)Texten begründet, kompetent gemacht, legitimiert und nicht zuletzt hinter ihnen versteckt. Sie sprengt, beeinflusst, bricht, kurz: sie „ordnet" (im Sinn von Foucault) den Rechtsdiskurs bereits dadurch, dass sie mit ihren „geltenden" Normtexten den Anfang, den Ursprung für den fraglichen Entscheidungsvorgang setzt; indem sie gewaltsam (weil durch Gewalt sanktioniert) ein Text-Äußeres aufzwingt. Dieses Text-Äußere ist dabei nicht der Normtext als solcher; als solcher bleibt er Text und kann der conditio, Text zu sein, nicht entkommen. Von einem „Äußeren" wird auch nicht deshalb gesprochen, weil im Recht neben Sprache auch Gewalt wirkt; das ist ohnehin so, auch außerhalb der fachlichen Rechtssprache, in Sprache überhaupt. Das gewaltsame Äußere, das von der gesetzespositivistischen Haltung der conditio des Normtexts aufgenötigt wird, ist die Fiktion, er sei ein privilegierter, ein (für die Dauer seiner staatlich bestimmten „Geltung") dem unabschließbaren Spiel der Differenzen und dem Zirkulieren der (als Texte notwendig) gleichgeordneten Texte entzogener Text.

Entsprechendes fingiert der Staatsapparat für das (von der Textlichkeit her nicht mögliche) Ende des Entscheidungsdiskurses: die wiederum gewaltsam durchsetzbare Fiktion, mit dem Text des Urteils (genauer: den Texten von Rechtsnorm, also Leitsatz; von Entscheidungsnorm, also Tenor; und mit denen der Gründe) sei ein privilegierter Endpunkt, also eine Gestalt für die eine Wahrheit dieses Falles setzbar, so wie der als einschlägig herangezogene Normtext seinen einen Ursprung hatte fingieren müssen. Das „Äußere" liegt hier darin, dass bei der rechtlich nicht mehr anfechtbaren Entscheidung, die Text ist, die Gemengelage von Gewalt und Sprache entmischt wird, dass der Faktor Gewalt allein dominieren und es der Sprache (dem Rechtsdiskurs) untersagt werden soll, weiter zu sprechen.

Warum zwingt der moderne Staat am Anfang wie am Endpunkt juridischer Entscheidung je ein Text-Äußeres auf? Anders gefragt: Warum muss unter Berufung auf (schriftliche) Normtexte und in Form (schriftlich) begründeter Urteilstexte entschieden werden?

Dass überhaupt entschieden werden muss, ist kein Phänomen erst des modernen Staates; und es ist keine Textfrage. Es ist eine - wenn auch in Texten behandelte, von Texten begleitete - Frage von Macht/Gewalt in den tatsächlich konflikthaften menschlichen Gruppen; und zwar immer dann, wenn ein Konflikt nicht intersubjektiv, nicht „intern" in der Untergruppe der „Beteiligten" hat gelöst werden können. Ein jeder gleichsam „geplatzter", also nur noch unter Berufung auf die Legitimität der Gesamtgruppe lösbarer Konflikt, kann natürlich durch Gewalt beseitigt werden; aber das ist dann kein Rechtsvorgang und damit kein Gegenstand dessen, was hier untersucht wird. Ferner kann die Lösung durch schweigende, bloß performative Dezision nach ungeschriebenem Rechtsbrauch, nach herkömmlich praktizierten Grundsätzen oder allein kraft dem Charisma der entscheidenden Person gefunden werden - dann aber durch Hordenchef, Clanvater, Stammesmutter, durch Häuptling oder Kaziken, und eben nicht von einem „Richter" genannten oder von anderen verfassungsmäßigen Rechtsfunktionären des Rechtsstaats, von dem hier die Rede ist. Die Streitfrage könnte auch ohne strenge Bindung an Normtexte, notfalls auch gegen das Gesetz (rechts-)politisch erwogen und entschieden werden; dann aber haben wir so etwas wie einen klassisch-römischen Prätor und nicht einen heutigen Richter vor uns. Sie ist auch so entscheidbar, dass zwar auf Normtexte hingewiesen wird, die Verbindung des Ergebnisses mit ihnen aber ohne Begründung nur behauptet werden darf - dann handelt es sich um eines der autoritären politischen Systeme, nicht aber um einen verfassungsrechtlich konstituierten Rechtsstaat.

Dieser bezieht seit dem Aufgang der modern-europäischen, später auch der nordamerikanischen Neuzeit seine besondere Legitimation daraus, „möglichst weitgehend mit formalisierter, kontrollierbarer, sprachlich vermittelter konstitutioneller Gewalt auszukommen und möglichst wenig die deswegen entlegitimierende bloße, d. h. die aktuelle Gewalt einsetzen zu müssen". Entscheidungen in diesem Rechtsstaatstypus stehen unter derart lastenden Vorgaben, dass die beunruhigende Zweideutigkeit dessen, was bei derartigen Entscheidungen wirklich vor sich geht, nicht mehr kaschiert werden kann: einerseits die (legitimierende) Entscheidungspflicht als ein Text-Äußeres; andererseits die (gleichfalls legitimierende) normative Vorgabe, die Entscheidung müsse durch schriftliche rationale Texte erfolgen - in einem Medium also, das ein solches Äußeres nicht (an)erkennt. Dem diskursiv nicht abbrechbaren Zirkulieren von Norm- und Kommentar- und Entscheidungstexten stehen normativ in Form der rechtsstaatlichen Normenmasse und Normen- Hierarchie, nicht-normativ methodologisch in Gestalt von Normprogrammgrenze und Präferenzregeln Instrumente der Disziplinierung des Diskurses gegenüber, die zwar sprachlich illusionär sind, die der Rechtsstaat aber gleichwohl aufnötigt.

Sprache ist bei alldem nicht „an sich" unschuldig; als vorgeschriebenes System (langue) transportiert und bewirkt sie immer schon Abrichtung und Vor-Schrift. Sie wird nicht erst als Rechtssprache von Gewaltverhältnissen durchsetzt. Der mit „Recht - Sprache - Gewalt" benannte Teilansatz der Strukturierenden Rechtslehre geht davon aus, dass Sprache nicht das lichte Reich der Gewaltlosigkeit sein kann. Ebenso wenig ist sie, trotz der Unabschließbarkeit des Diskurses, der anarchische Bereich gewaltfreier Erkenntnis. Sie ist - wie das Recht auch - immer schon von sozialer Gewalt durchwirkt: bereits als kollektives System wie auch als Abrichtung beim Spracherwerb der Kinder im Sinn Wittgensteins. Als Rechtssprache ist sie zusätzlich von Staatsgewalt und von Gruppengewalt imprägniert. Derrida spricht von einer „Kontamination im Herzen des Rechts"; ebenso davon, dass die Gewalt „der Rechtsordnung nicht äußerlich (ist). Sie bedroht das Recht in dessen Innerem" . Sprache trägt die Spuren von Gewalt an sich und übt ihrerseits Gewalt aus; Recht, das gewaltsam gesetzt wird und seinerseits Gewalt installiert, ist unausweichlich auf Sprache angewiesen. Die Aufgabe und der Versuch, Gerechtigkeit zu verwirklichen, spielen sich im Raum dieses mehrfachen Zwiespalts ab.

Weder eine „Reine Rechtslehre" noch eine „Reine Sprachlehre" können diesen Raum angeben, in dem es unter den tatsächlichen Bedingungen um Gerechtigkeit geht. Dagegen hat sich die Strukturierende Rechtslehre als „entschieden unrein" vorgestellt : „unrein" für alle die Rechtsarbeit prägenden Relationen wie „Sein und Sollen", „Norm und Fall", „Wirklichkeit und Norm", „kognitive und volitive Elemente". Von ihr her wird die Unreinheit von Sprache gegenüber Gewalt besonders deutlich: als Grundbestimmung innerhalb des genannten Ensembles von Relationen.

In dem zwiespältig konstituierten Feld von Recht und Gewalt und Sprache wird Genauigkeit zu einer notwendigen Bedingung von Gerechtigkeit, wird das, was die Rede von der Kontaminierung festhält, zur Arbeitsaufgabe einer nachpositivistischen Methodologie der Rechtsarbeit. Vor diesem Hintergrund hat, als kennzeichnende Einzelfrage, gerade auch die Normprogramm- (in der Tradition: Wortlaut-)grenze als Grenze etwas Gewaltsames. Warum soll das „rein" methodisch, soll das anhand der Texte und in Gestalt von Texten ins Unbegrenzte fortführbare Spiel von Argument und Gegengesichtspunkt, von Kommentartext und Gegenkommentar an einer bestimmten Stelle abgebrochen werden? Diese Stelle ergibt sich in der Tat nicht aus dem Flechtwerk der behandelten sozialen Konflikte, diese Grenze nicht aus den „Methoden". Das vorliegende Konzept hat von Anfang an klargestellt, dass es nicht um Grenzziehung in dem Sinn gehen könne, als beginne jenseits der Grenze die Unmöglichkeit weiteren Argumentierens; vielmehr gehe es um Eingrenzung gemäß dem normativen, dem demokratisch-rechtsstaatlichen Code „noch erlaubt/nicht mehr erlaubt". Und vor der Ausarbeitung dieser Methodik wurde schon bei der Erstbegründung der Strukturierenden Rechtslehre hervorgehoben, bei der „äußerste(n) Grenze möglicher Konkretisierung" gehe es um die „Grenze zulässiger (...)", um „den Bereich legitimer Konkretisierungsergebnisse". Das methodisch Mögliche ist unbegrenzt; das Postulat der Legitimität, hier an die praktisch durch Entscheidung handelnden Juristen gerichtet, setzt Grenzen. Diese drücken sich im Konzept der Strukturierenden Methodik vor allem durch folgende Figuren aus:

- die Unterscheidung von Sprachdaten und Realdaten;
- die Überordnung der Sprachdaten beim Erarbeiten des Normbereichs aus dem Sach-(bzw. Fall-)bereich am Maßstab des Normprogramms;
- die Unterscheidung von norm(text)bezogenen und nicht-norm(text)-gestützten dogmatischen Elementen sowie durchgängig: von Konkretisierungsfaktoren, die geltenden Normtexten zugerechnet werden können und solchen, die es nicht können; und schließlich
- die Überordnung der Sprachdaten beim Präferieren der jeweils normtextnäheren Elemente im Fall methodologischer Konflikte.

Das beunruhigendste Paradox liegt darin, dass gerade das, was ein diskursives Anhalten unmöglich macht - die kodifizierte Rechtsordnung als Schrift -, sowohl den Grund als auch die praktischen Maßstäbe für ein gewaltsames Anhalten liefern muss: der für den Rechtsfall zuständige Normtext (zumeist eine Mehrzahl von Vorschriften) als Text; er wird zudem in seine für rechtlich legitime Entscheidung ausgezeichnete Rolle seinerseits durch andere Normtexte des demokratischen Rechtsstaats befördert. Und nicht nur die Normtexte: auch die (im Fall zu produzierenden) Texte von Rechtsnorm und Entscheidungsnorm wie auch die der Begründung sind - aus verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Gründen - Schrift. Über sie hinaus gehen die Diskurse weiter: der Entscheidungstenor wird, zusammen mit seiner Begründung, durch Berufung, Revision und durch sonstige Rechtsbehelfe formell in Frage gestellt; er wird von höherer Instanz hin- und hergewendet, wird bestätigt, verworfen, verändert. Der Begründungstext, mit seinem Tenor, wird wiedergegeben, diskutiert, verteidigt, kritisiert, „abweichend" interpretiert, wird zum Ausgangspunkt prinzipiell endloser weiterer Diskurse gemacht; und diese werden es ihrerseits. Die unablässig betriebene alltägliche juristische Praxis wie auch das erdrückende reiche Material der Rechtsgeschichte bieten (neben der "Theo"logie) das wohl grandioseste Beispiel für das von Foucault formulierte „unendliche Gewimmel der Kommentare", wie sie zugleich ungezählte Beispiele für Eingriffe in den Rechtsdiskurs und für sonstige Formen der Diskursverknappung liefern.

Das befohlene Innehalten im Begründungsdiskurs am Maßstab der Normtextnähe, um zur Entscheidung zu kommen (-a - überhaupt; und - b - zu dieser einen und keiner anderen Entscheidung), ist gewaltgestützt. Es ist, von seiner Begründbarkeit aus beurteilt, nur Gewalt; ist Gewalt, die den Rahmen des Text-/Schriftdis-kurses, des Diskurses also, aufgesprengt hat.

Das nicht beendbare Spiel der Differenzen (im Sinn Derridas) beherrscht, als notwendiges, zur Gänze diejenigen Stufen des Umgangs mit Texten, mit Schrift, die oben (intuitives) „Verstehen" und (reflektiertes) „Interpretieren" genannt worden sind. Es beherrscht, als Spiel in der Sprache, zwar auch noch die im Unterschied dazu so bezeichnete „Arbeit mit Texten", wird dabei aber von einem „Draußen" gestört: vom Gewaltkomplex des Staatsapparats. Dieser Einbruch von Gewalt in die Welt der Schrift, dieses - um der im Namen der Legitimität geschuldeten Entscheidung willen - gewaltsame Anhalten des diskursiv unanhaltbaren Diskurses bietet ein nachdrückliches Beispiel für das, was Arbeit mit Texten in einer (staatlichen) Rechtsinstitution heißen kann.

Die mit Sprache überhaupt - durch Sprache als System (langue) und durch ihre abrichtende Kraft - gegebene Gewalt, die allgemeine Gewalt-Kontaminierung von Sprache erscheint nicht als Text-Äußeres. Als Text-Äußeres dagegen kann die abschneidende und verpflichtende, die sanktionierende und exekutierende Staatsgewalt gelten: eine sehr spezifische Gewalt im Rahmen der überall verteilten allgemeinen, eine einmalig konzentrierte. Die (rechtskräftig handelnde) Staatsgewalt ist ein Draußen des Diskurses insoweit, als sie sich durch ihr Handeln anmaßt, ihn zu beenden und sich dadurch bemüht, sich außerhalb seiner zu stellen. Sie ist in dem Maß ein Hors-Texte, in dem sie den Bedingungen von Textualität für ihr Teil entkommen zu können praktisch vorgibt. Der Differenzstruktur der Zeichen unterliegt auch die Staatsgewalt. Aber sie ist nicht einfach eines unter den Zeichen; sie ist, als abschneidende, deren Vergewaltigung.

Eine Gesetzesvorschrift (ein Normtext) wird nicht erlassen, um von wem auch immer, besonders aber von Juristen, geisteswissenschaftlich „ verstanden " zu werden. Ein Normtext wird in die Rechtswelt gesetzt, um von institutionell zuständigen, mit Staatsgewalt bewehrten Entscheidungsträgern benutzt zu werden. Normtexte schreiben sich nicht einem (Gadamerschen) „hermeneutischen Universum" ein; sondern der rechtsstaatlichen Textstruktur aus anordnenden und rechtfertigenden Zeichenketten, durch die der Verfassungsstaat seine Gewalt nicht so sehr real konstituiert, als vielmehr konstitutionalisiert. Ein demokratischer Rechtsstaat ist somit ein Gemeinwesen mit einer Textstruktur; ist eine rechtlich-politische Form, eine Gesellschaft zu organisieren, in der auch das gültige Ergebnis von Staatsgewalt (das in Kraft getretene Gesetz, der bestandskräftige Verwaltungsakt, die rechtskräftig gewordene Gerichtsentscheidung) kritisiert, mit Argumenten bekämpft werden darf. Der allgemeine Diskurs der Gesellschaft, der die Äußerungen von Staatsgewalt begleitet, wird nicht seinerseits gewaltsam unterdrückt.

Die von Normtexten geforderte Arbeit muss, bei den hier gemeinten Vorgängen, zu praktischen Entscheidungen führen. Das den Diskurs (vergeblich, aber tatsächlich) abschneidende Urteil ist in dieser abschneidenden Funktion nur Gewalt: einer der strategischen Punkte, an denen Staatsgewalt die Maske abnimmt. Und doch ist dieses Abschneiden, gegeben mit der Existenz eines Staatsapparats dieser Art, zwar tatsächlich, aber vergeblich. Der Staat schlägt auf die Sprache (er kann nicht anders, es ist seine raison d'etre); doch die Sprache schlägt zurück. Die Texte des Staates sind Gewalt; aber sie bleiben Texte, bleiben Schrift - bis zum Jüngsten Gericht können andere Sätze an ihre (noch so rechtskräftigen, sogar an ihre exekutierten) Urteilssätze geknüpft werden.

JM I, Rn. 510 ff.
Das könnte
Sie auch interessieren:

Legitimierung
nicht legitimierbare
Nötigungsmittel
rechtsprechende

gesetzgebende
Gewaltenteilung
Gewaltenteilungslehre
Gewaltenteilungsprinzip
Zum Anfang
Wir sind an Ihrer
Meinung interessiert
info@juristische-methodik.de
Wir freuen uns
auf Ihre Anregungen
Zum Anfang
© RC 2003 ff.