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Linguistik Rechtslinguistik: Sprache des Rechts
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Gesetz und Recht
Die Aufforderung an die Gerichte, unter Zugriff auf die Gerechtigkeit zujudizieren, wird gemeinhin mit Art. 20 Abs. 3 GG und der darin enthaltenen Wendung "Gesetz und Recht" begründet. Tatsächlich wird diese Formel, welche keinen eigentlichen Vorläufer kennt, aus der Erfahrung des nationalsozialistischen Unrechts nur zu verständlich. Nachdem dieser Normtext zunächst zum Ansatzpunkt für weitgehende naturrechtliche Spekulationen wurde, sah er sich er nach der Konsolidierung der Bundesrepublik in seiner Interpretation abgeschwächt. An die Stelle einer die Gesetzesbindung aushöhlenden naturrechtlichen Interpretation trat als Gegengift zunächst die Auslegung von „Recht“ als Gewohnheitsrecht. Die Systematik lässt ein solches Verständnis zu. Es ist allerdings wenig wahrscheinlich, dass sich die Funktion dieser Wendung darin erschöpft. Denn die allgemein anerkannte Bindungswirkung des Gewohnheitsrechts bedarf keiner Hervorhebung an einer solch zentralen Stelle der Verfassung, wie sie Art. 20 darstellt. Als weitere Funktion des Art. 20 Abs. 3 GG wird deswegen oft die Anordnung einer Bindung an Präjudizien genannt. Gegen dieses Verständnis wird häufig eingewandt, dem kontinental-europäischen Rechtskreis sei eine Bindung an richterliche Präjudizien fremd. Tatsächlich muss bei der Frage einer Bindung an Vorentscheidungen eine normtextähnliche Bindung von einer nur argumentativen unterschieden werden. Eine Bindung an den Normtext kann durch bessere Argumente nicht überwunden werden, eine argumentative Bindung dagegen schon. Unter der Geltung des Grundgesetzes kommt nun aber nur eine argumentative Bindungswirkung von Präjudizien in Betracht. Daraus wird nun folgende Kritik abgeleitet: "Deutet man den Ausdruck Recht in Art. 20 Abs. 3 GG als Präjudiz, müsste man zudem im Grunde eine unbedingte Bindung annehmen, ansonsten ließe die Norm den Richter im Unklaren über den jeweiligen Bindungsumfang." (Hoffmann, B.: Das Verhältnis von Gesetz und Recht, Berlin 2003) Diese Kritik überzeugt allerdings nicht. Art. 20 Abs. 3 unterscheidet gerade „Gesetz“ und „Recht“. Wenn man „Recht“ danach als konkretisiertes Gesetz versteht, bleibt für eine Unterscheidung im Bindungsmaßstab durchaus Raum.

Die Schwierigkeiten der bisherigen Interpretation von Art. 20 Abs. 3 zeigen, dass es nicht sinnvoll ist, die Wendung "Recht" im Rahmen des herkömmlichen Modells einer Gegenstandserkenntnis zu interpretieren. Das Recht ist ebenso wenig wie das Gesetz ein der Erkenntnis vorgegebenes Ding. Erst im Rahmen eines Modells richterlicher Rechtserzeugung kann die Unterscheidung von „Gesetz“ und „Recht“ als Hinweis auf verschiedene Konkretisierungsstufen innerhalb der rechtstaatlichen Textstruktur verstanden werden. Das Gesetz als Normtext muss vom Richter zur Rechtsnorm konkretisiert werden. Die Bewegung von der abstrakten Stufe des anordnenden Textes zu seiner konkreten Stufe wird durch die Notwendigkeit erschwert, beide Stufen durch einen rechtfertigenden Text zu verbinden: die Begründung. Innerhalb der Begründung kann dann die argumentative Bindung durch die Vorentscheidung als an ein schon zu Recht konkretisiertes Gesetz ihren Platz finden.

Der Strukturierenden Rechtslehre wird vorgehalten, mit ihrer Interpretation im Rahmen eines Rechtserzeugungsmodells dem „Recht“ im Sinn des Art. 20 Abs. 3 wenig eigenständigen Sinngehalt beizumessen. Ihre Position laufe auf eine Gleichsetzung von Gesetz und Recht hinaus, welche den weiter gehenden Sinngehalt der Wendung „Recht“ und seine gegen gesetzliches Unrecht gewendete appellative Aufgabe verkenne. Eine Gleichsetzung von „Gesetz“ und “Recht“ nimmt die Strukturierende Rechtslehre aber gerade nicht vor, indem sie beide als unterschiedliche Stufen in der rechtstaatlichen Textstruktur versteht. Wie steht es aber um die appellative Funktion?

Die Vertreter einer Gleichsetzung von „Gesetz“ und „Recht“ wenden sich gegen das naturrechtliche Verständnis des Rechts als höherem, dem Gesetz übergeordneten Erkenntnisgegenstand. Dieses Ziel verfolgt auch die Strukturierende Rechtslehre. Unterschiede zeigen sich allerdings in der Begründung: "Die Tautologen machen geltend, dass Gesetz und Recht unter der Geltung des GG dasselbe bedeuten und miteinander versöhnt erscheinen, da die Verfassungsordnung selbst genügend Sicherungen für eine materiell verstandene Gerechtigkeit bietet. Für die Verwirklichung von Gerechtigkeit sorgen u. a. die Verankerung der Menschenwürde sowie das Bekenntnis zu den Menschenrechten in Art. 1 GG, der durch Art. 79 Abs. 3 GG besonderen Änderungsschutz besitzt, der Grundrechtskatalog einschließlich der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG und darüber hinaus unter prozeduralem Aspekt die Ausgestaltung des Gesetzgebungsverfahrens und die Möglichkeit der Normenkontrolle. Mit Blick auf die genannten grundgesetzlichen Vorkehrungen wird vertreten, dass unter der Geltung des GG Legalität Legitimität indiziert." Tatsächlich spricht gegen eine rein tautologische Interpretation der Gleichsetzung von „Recht“ und „Gesetz“, dass Legitimität kein statischer Begriff ist. Sie ist nicht ein Zustand, den eine Rechtsordnung ein für alle Mal erreicht. Vielmehr ist Legitimität eine dynamische Vorstellung, die anzeigt, dass es einer legalen (also tatsächlich funktionierenden) Rechtsordnung gelingt, das Problem der Gerechtigkeit diskursiv offen zu halten.

Ausgangspunkt des Rechts ist der Konflikt. Dieser beginnt als Widerstreit, das heißt, als praktischer Konflikt ohne Erklärung außerhalb von Rechts- und Tauschverhältnissen: "Was diesen Zustand anzeigt, nennt man normalerweise Gefühl. 'Man findet keine Worte' usw." Streng genommen kann man ihn nur in der ersten Person formulieren, in der dritten wäre er schon objektiviert: "Der Widerstreit ist der instabile Zustand und der Moment der Sprache, in dem etwas, das in Sätze gebracht werden können muss, noch darauf wartet."

Aus dieser Situation erwächst das Problem des Rechts: "Jedes Unrecht muss in Sätze gebracht werden. Eine neue Kompetenz (oder Klugheit) muss gefunden werden." In die erste Person wird damit eine objektivierende Instanz eingeführt, welche zwischen den beiden Konfliktparteien vermitteln soll.

Wie man heute klarer sieht, lässt sich die Grenze eines Systems innerhalb seiner selbst nicht formulieren, ohne als Grenze aufzuhören. Dies macht den Auftrag des Rechts, das vom Kläger gefühlte Unrecht zu formulieren, so schwierig: "Syntax und Vokabular der Sprache des Rechts sind bekanntlich jeweils begrenzt, jedenfalls explizit und streng geregelt. Ich muss ein Unrecht, von dem ich meine, dass es mir widerfahren sei, rechtlich namhaft machen und als Normverletzung darstellen können, andernfalls ist es nicht justiziabel; d. h. es ist rechtlich nicht existent. Nun ist jede wirkliche Sprache des Rechts (Syntax und Vokabular, Verfahrensregeln und Tatbestandsmerkmale) 'gesetzt'. Gewöhnlich ist sie durch die Herrschenden gesetzt, oder sie haben sie sich jeweils durch Auslegung angeeignet. Zwangsläufig werden dabei aber denkbare Tatbestände ausgegrenzt, weil sie in der Sprache des geltenden Rechts (hier und heute) nicht darstellbar sind. Wenn nun ein Konflikt unter dem Gesetz zur Entscheidung ansteht, d. h. vor Gericht verhandelt wird, dann wird wohl nach den Regeln der geltenden Grammatik des Rechts argumentiert, und zwar über alles, was das Gesetz als mögliche Tatbestände zu erfassen erlaubt, nicht aber über das Gesetz selbst. So wird am Ende ein Konsens hergestellt, der dem Gesetz Genüge tut, unabhängig von der Frage, ob er dem Anliegen der Parteien 'gerecht' wird." Das Unrecht bleibt also als Gegenüber des Gesetzes erhalten.

Es stellt sich die Frage, ob damit nicht die Möglichkeit einer begründeten Rechtsentscheidung verloren geht. Ohne den letzten Grund eines Gerechtigkeitsbegriffs, der das Unrecht endgültig fixiert, könnte das Recht zum amorphen Patchwork ohne totalisierende Effekte werden. Eine Gesellschaft, in der sich auf Grund der Abwesenheit von Fundamenten nichts regeln lässt, wäre eine Gesellschaft ohne Recht. Aber auch umgekehrt wäre eine Gesellschaft, in der sich aus dem letzten Grund des Gerechtigkeitsbegriffs alles herleiten lässt, eine Gesellschaft, in der alles schon vorentschieden wäre. Darin zeigt sich, dass es gerade die Leerstelle der Gerechtigkeit ist, welche die Begründung von Recht ermöglicht. Der Begriff rückt damit von der Position des Grundes in die des Horizonts. Erst das Fehlen des letzten Grundes ermöglicht die Begründung von Entscheidungen.

So wird das Recht zum „Ethymem“, d.h. ihm fehlt der letzte Obersatz. Und doch müssen ständig unzulängliche Stellvertreter formuliert werden. Gerechtigkeit ist damit nicht mehr als die immer wieder eröffnete Möglichkeit, den Widerstreit auszutragen. Als Ziel sowohl unerreichbar als auch unverzichtbar, ermöglicht sie den Weg des Rechts. Die über das Gesetz erfolgende Unterscheidung von Recht und Unrecht ist niemals endgültig. Dies ist die appellative Aufgabe der Wendung „Recht“ in Art. 20 Abs. 3 GG. Sie ist der Stachel, welche die praktische Rechtsarbeit darauf aufmerksam macht, dass die Legitimität einer Rechtsordnung niemals ein endgültig erreichter Zustand ist.

JM I, Rnn. 142 ff.
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