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genetische Konkretisierung im Primärrecht |
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Die Texte des Gemeinschaftsrechts unterliegen einer mehrsprachigen Redaktion. Diese liefert für die genetische Auslegung zunächst einmal eine größere Fülle von Material, damit aber auch den Ansatzpunkt für mehr Lesarten. Die Frage, ob darin für die Rechtsarbeit eine Last oder ein Gewinn liegt, wird in der Literatur folgendermaßen beantwortet: “Mehrsprachigkeit ist beides: Last und Gewinn. Die Frage ruft nach einer differenzierten Antwort, wobei an der Tagung selbst die Meinung dominierte, die mehrsprachige Gesetzesredaktion sei – über ihre staatspolitische Bedeutung hinaus – für die Gesetzgebungsarbeit insgesamt ein Gewinn: sie führt dazu, dass der Formulierung von Erlasstexten generell mehr Beachtung geschenkt wird, und hilft, inhaltliche Unklarheiten und Inkongruenzen rechtzeitig zu entdecken. Anderseits kann sie aber auch zusätzliche und mindestens zum Teil willkommene Auslegungsmöglichkeiten schaffen.“ (Mader, L., Die mehrsprachige Gesetzesredaktion: Last oder Gewinn? in: LeGes 2001/3)
Bei der genetischen Konkretisierung ist für die Häufigkeit des Befunds dagegen zwischen dem Primär- und dem Sekundärrecht zu unterscheiden. Im Primärrecht ist zu berücksichtigen, dass die Vorarbeiten zu den Verträgen, soweit überhaupt vorhanden, nicht veröffentlicht sind und damit unter dem Gesichtspunkt eines rechtsstaatlichen Verfahrens nicht verwertet werden können. Aber es gibt von den jeweiligen Regierungen amtliche Erklärungen, die im Ratifikationsverfahren den Parlamenten vorgelegt wurden. Die Heranziehung dieser Materialien wird in der Literatur als Möglichkeit gefordert, um über eine sachliche Kongruenz dieser Erklärungen zu einem einheitlichen Verständnis der Vertragsschließenden zu gelangen. Dementsprechend hat ein Generalanwalt angesichts des Fehlens sonstiger Materialien auf diese Erklärungen Zugriff genommen: Man könne darin die gemeinsame Lesart der Vertragsparteien erkennen, denn es könne einer Regierung nicht unterstellt werden, bewusst abweichende Positionen zu artikulieren. Natürlich will man gerne glauben, dass Regierungen nicht lügen. Als Zurechnungsregel ist dies insoweit plausibel. Auch der EuGH selbst hat in der Rechtssache Humblet auf die Erklärungen der Regierungen zugegriffen. Allerdings hat das Gericht darin gerade keine einheitliche Lesart gefunden. Diese Unergiebigkeit hat sich auch in der Folgezeit gezeigt. Zwar wurden diese Texte zur Bestätigung von Ergebnissen herangezogen, die mittels anderer Konkretisierungselemente gefunden wurden. Aber diese Aussagen haben in der Auslegung des EuGH nie ein großes Gewicht gewonnen. Zu Recht sieht die Literatur die Ursachen darin, dass die Zielrichtung dieser Äußerungen primär innenpolitisch ist, und sie im übrigen mit dem dynamischen Charakter einer stetig wachsenden Gemeinschaft nicht in Einklang zu bringen sind.
JM II, S. 63 f. |
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