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genetische Auslegung und kompetitives Handeln |
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Die genetische Konkretisierung kann sich zunutze machen, dass die Akteure in den verschiedenen Zusammenhängen ihre personal kompetitive Intention zugunsten ihrer restiven Gewinnchancen unterlaufen. Dies ist überall dort der Fall, wo die der Selbstbehauptung dienende „Darstellung von Politik“ der „Herstellung von Politik“ unterworfen wird. Politik ist eben nicht kompetitives Handeln reinsten Wassers, auch wenn andererseits nie von vornherein ausgemacht ist, inwieweit es sich nicht doch auf dessen Inbegriff bringen lässt. Politiker neigen angesichts des im kompetitiven Spiel immer auch drohenden Totalverlustes dazu, sich mit einem weniger an unsicherem Sieg zugunsten eines Mehr an sicherem Gewinn zufrieden zu geben. Deutliches Beispiel etwa sind Verhandlungen im Vermittlungsausschuss. Die genetische Konkretisierung jedenfalls kann den Texten Gewicht für die Normkonkretisierung zumessen, denen erkennbar eben jenes Überspielen der Siegintention durch eine Gewinnabsicht plausibel zugeschrieben werden kann. Natürlich muss er dafür den Stellenwert der jeweiligen Textpassage sorgfältig gerade in Ansehung der Person des sie vortragenden politischen Akteurs erwägen. Dabei kann die genetische Konkretisierung durchaus auf die Selbstbekundungen der Akteure bauen. Einmal vertextet bindet sie.
Semantisch kann sich die genetische Konkretisierung also nicht auf die Frage nach dem "was" des Textes beschränken. Sie hat, um dessen Relevanz zu ermessen, die Frage nach dem „wie“ des Zustandekommens zu stellen. Dies wiederum gliedert sich pragmatisch auf in die Fragen „wer“ sich hier geäußert hat, „wo“, d. h. in welcher der entsprechenden Gremien und Foren, und „wann“ im Sinne der konkreten Stelle im gesamten Gesetzgebungsprozess. Der Jurist rollt damit den Prozess der Textgewinnung und Durchsetzung von Bedeutungsgebungen noch einmal auf, indem er ihn auf den institutionell vorgegebenen Anspruch hin überprüft, einen Beitrag zur Formulierung geltenden Rechts zu leisten ohne dabei zu übersehen, dass der wiederum von politischem Interesse geprägt ist. Die Ansatzpunkte dafür ergeben sich aus den praktischen Verhältnissen des Gesetzgebungsprozesses. Hinsichtlich des „Wer“ wird sich der Jurist vorrangig an die Wortführer halten. Die Rechtfertigung für dieses Vorgehen ergibt sich aus dem Umstand, dass aufgrund der real parteienorientierten Ausrichtung des parlamentarischen Handelns die einzelnen Akteure in der Regel immer als Personifizierungen ihrer jeweiligen Kollektive auftreten. Diese wird in den internen Zirkeln und Gremien hergestellt: „Die Parteien beeinflussen aber nicht nur die Meinungsbildung, sondern steuern - auf der Grundlage des Prinzips der Fraktionsdisziplin - zugleich die parlamentarische Entscheidungsfindung“, so dass „letztlich die Parteiführungen das Abstimmungsverhalten der Fraktionen und - im Falle der Mehrheitsfraktionen - zugleich die Regierungsarbeit bestimmen“. Von hier aus ist es für die Gerichte auch sinnvoll, trotz des grundsätzlichen Inszenierungscharakters der Plenardebatte. Textstellen aus Bundestagsprotokollen heranzuziehen, wie im Beispiel geschehen. Dann nämlich, wenn sich hier die politischen Akteure vor der Öffentlichkeit zu dem erklären, was zuvor in den Arbeitsgremien ausgehandelt wurde, und damit „beim Wort genommen“ werden können, sofern hier „die Entscheidungen in voller Öffentlichkeit registriert werden oder auch erst fallen“. Natürlich kann die genetische Konkretisierung auch Minderheitsvoten berücksichtigen. Dann allerdings besteht ein erhöhter Begründungsbedarf. Dann ist darzulegen, in welcher Weise diese dennoch in den Entscheidungsprozess eingeflossen und ihre Wirkung getan haben. Für das „wo“ dieses Entscheidungsprozesses wird sich die genetische Konkretisierung am besten an die Aufzeichnungen der Auseinandersetzungen halten, in denen eben die „Arbeit“ am Normtext getan wird, etwa Protokollen der Ausschuss- oder Kommissionssitzungen. Das Verfassungsgericht bezieht sich daher unter anderem etwa auf die Verhandlungen in der „Gemeinsamen Verfassungskommission“. Von hier aus bestimmt sich auch das „wann“ einer für die genetische Konkretisierung herangezogenen Textstelle als die retrospektiv auf eine Abfolge rückprojizierte Zeit. Die genetische Konkretisierung hat sie so in ihrem Stellenwert einzuordnen. Dabei kann man nach der parlamentarischen Praxis und der Logik kompetitiver Sequenzierungen von Handeln annehmen, dass eine Äußerung umso durchschlagender und relevanter ist, je „näher“ sie an dem letztendlich festgeschriebenen Ergebnis liegt. „Schematisch gesehen, beginnt der Prozess der parlamentarischen Willensbildung und Entscheidung also in den Arbeitsgruppen und Arbeitskreisen der Fraktionen. Er setzt sich in den Fraktionsversammlungen fort, geht dann in den Bundestagsausschüssen weiter und mündet schließlich im Plenum, das die endgültigen Entscheidungen trifft. [...] Jedenfalls gilt, dass so gut wie alles, was schließlich das Plenum als letzte Instanz erreicht, in zahlreichen Gremien schon eingehend beraten worden ist und sich bereits dabei die verschiedenen Standpunkte und politischen Fronten herauskristallisiert haben.“ Entsprechend ist davon auszugehen, dass zu Beginn des Prozesses die Akteure zunächst als Kontrahenten ihre Positionen formulieren und abstecken. Diese stellen für die Verhandlungen gewissermaßen auch den Preis dar, den Einsatz im semantischen Kampf. Der Einsatz erfolgt für eine Abfolge offensiver und defensiver Züge, wonach der Prozess zu deeskalieren beginnt in Richtung des Aushandelns einer Position, durch die alle „das beste für sich herausholen“ können. Die Akteure verfolgen angesichts des durch den personalen Antagonismus immer potentiell drohenden Scheiterns des restiven Gewinnanspruchs in der Niederlage in der Regel eine Strategie der Maximierung des Minimums. Nebenbei bemerkt liegt hier wohl auch eine der Wurzeln der Kritik an einer mangelnden Risikobereitschaft und mangelndem Mut in der Politik, der sicherlich eine Strategie der Minimierung des Maximums nahe legen würde, das heißt den Versuch gegen allen Widerstand das jeweils beste aus der Lage herauszuholen, ohne zugleich in eine Konfrontation um der Konfrontation willen durch das bloße Beharren auf Maximalforderungen zu verfallen, was gleichfalls häufig als bloße Profilierungstaktik und Unfähigkeit zu praktischen Veränderungen beklagt wird. Je näher dann auf dem angedeuteten Weg die Textstelle an dem formal durch Abstimmung oder etwa informell durch Kompromisse hergestellten Ergebnis liegt, desto eher kann die genetische Konkretisierung davon profitieren. Denn personales Einlenken in der Positionsbestimmung bedeutet restives Einfinden in die Bedeutungsformierung.
Die genetische Konkretisierung betreibt, gerechtfertigt durch die den Politikern in all ihren Handlungen auferlegte Verpflichtung eine doppelte Textarchäologie. Sie nimmt die Materialien als politische Äußerungen auch gegen deren erkennbar auf Macht gerichtete Intention ernst bei ihrer Vorgabe, „dass die Parteien in Rede und Gegenrede die Kraft der Argumente und der Sprache bemühen, um sich gegenseitig zu überzeugen“. Der Jurist kann dies tun, weil die Erfüllung dieser Erwartung wenigstens dem Schein nach für die Akteure institutionell verpflichtend ist. Die genetische Konkretisierung spielt über diesen Umweg den Politiker als Parlamentarier aus und hebt darin rekonstruktiv dessen Figurierung als Akteur analytisch auf. Worauf es ankommt ist zu zeigen, wie das Gericht die Geltung als Argument herstellt. Indem es metakommunikativ den Weg von Personalen zum Restiven nachzeichnet, kann das Gericht aus der Textstelle ein geltendes Argument machen. Damit zeigt sich, dass die genetische Konkretisierung nicht vor „Parteilichkeit“ des politischen Kampfes um das Gesetz zu resignieren braucht. Sie muss vielmehr die Struktur kompetitiven Handelns in der Analyse berücksichtigen, um den Kern der Sache als geltendes Argument herauszupräparieren.
Entgegen der objektiven Lehre in ihrer strengen Form ist damit die Möglichkeit genetischer Auslegung dargetan Ihr Stellenwert und ihre Einordnung in den Gesamtvorgang der Konkretisierung hängen allerdings von den methodenbezogenen Normen im Umkreis des Rechtsstaatsprinzips ab.
JM I, Rn. 361 f |
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