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gemeinsamer Nenner |
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Als Regel zur Lösung von Bedeutungsdivergenzen im Europarecht wird erwogen, das gemeinsame Minimum der Bedeutungen in den verschiedenen Sprachen zugrunde zu legen. Eine bestimmte Vorgehensweise des EuGH bei Auslegungsproblemen scheint zunächst in diese Richtung zu deuten. Es handelt sich um die Regel des gemeinsamen Nenners. Danach hat die Auslegung Vorrang, die sich auf die gleichen Bedeutungsvarianten der verschiedensprachigen Wortlaute stützen lässt. Enthält der Wortlaut einer Fassung die Bedeutungsvarianten a und b und eine andere Fassung die Bedeutungsvarianten b und c, usw., so ist die gemeinsame Bedeutungsvariante b vorzuziehen. Der Vorteil dieser Regel besteht darin, dass jede nationale Variante in der gemeinsamen Bedeutung berücksichtigt wird.
Der Gerichtshof hat diese Regel niemals ausdrücklich formuliert. Immerhin gibt es dazu ein Urteil aus dem Jahr 1981. Hier wird eine im Deutschen sehr weite Wendung im Licht der anderssprachigen Wortlaute auf ein gemeinsames Minimum hin ausgelegt. In der Literatur wird aber immer wieder hervorgehoben, dass dieses Urteil ein Einzelfall geblieben ist.
Trotzdem wird die Regel vom gemeinsamen Nenner als Lösung für das Problem der Bedeutungsdivergenzen immer wieder vertreten. Sie wird häufig damit begründet, dass die Texte nur sprachlich ein je besonderes Dasein aufwiesen. Weil aber die Parteien einen einheitlichen identischen Sinn wollten, könne der scheinbar mehrfach zum Ausdruck gekommene Wille nur ein einheitlicher sein. Aus dieser sogenannten Einheitsregel folgt aber noch nicht das semantische Postulat einer gemeinsamen Bedeutung als Schnittmenge verschiedener Sprachen. Die meisten Vertreter der Literatur sind im Hinblick auf die explizite Formulierung einer solchen Regel denn auch sehr vorsichtig. Die praktischen Erfahrungen im Völkerrecht sprechen dagegen. Meist wird die semantische Unterstellung als bloße Vermutung formuliert: "Da nur ein einziger Vertrag - wenn auch in verschiedenen sprachlichen Fassungen - vorliegt, wird vermutet, dass die Ausdrücke des Vertrags in jedem authentischen Text dieselbe Bedeutung haben."
Tatsächlich übernimmt der EuGH die Regel vom gemeinsamen Nenner keineswegs. Demnach müsste er ja nach einem gemeinsamen Minimalgehalt suchen. Das tut das Gericht aber nicht. Dies wird auch in der Methodenliteratur zur Arbeit des EuGH klar gesehen: „Verwenden die Verträge in den verschiedenen offiziellen Fassungen unterschiedliche Begriffe, ist nicht nach dem gemeinsamen Minimum der Vertragsbedeutung zu suchen; die Möglichkeit der Vertragsauslegung erstreckt sich vielmehr, da der Vertragswille auf alle offiziellen Fassungen gerichtet ist, auf den ganzen Inhalt der Bedeutungen in den verschiedenen Sprachen.“
Das Gemeinsame-Nenner-Verfahren hilft bei einer echten Bedeutungskonfrontation nicht weiter. Wenn der EuGH eine solche Bedeutungsdivergenz festgestellt hat, schlägt er einen anderen Weg ein. Er trifft die Entscheidung mit Hilfe weiterer Konkretisierungselemente. Dabei kommt es nicht darauf an, ob diese Bedeutungsvariante auch in den anderssprachigen Wortlauten möglich ist. Entscheidend sind vielmehr Zweck und Systematik der Regelung.
JM II, S. 29 ff |
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