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Europäischer Gerichtshof |
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Zu Recht wird der Vorgang der Europäisierung von der Rechtswissenschaft kritisch begleitet. Im Hinblick auf die vom EuGH im Bereich des vorläufigen Rechtsschutzes angestoßenen Entwicklungen spricht man etwa von einer Ersetzung gesetzgeberischer Kontrollmaßstäbe durch europäisches Richterrecht. Auch will man die Nivellierung vollzugseffizienter und gewachsener Strukturen des nationalen Rechts verhindern. Dazu scheut man auch nicht globale Kritik am "imperialistischen Charakter" der Rechtsprechung des EuGH und seinen "besatzungsrechtsähnlichen Interventionen". Von solchen Interventionen kann man aber erst dann sprechen, wenn der EuGH den Rahmen des methodisch Möglichen verlässt. Dann erst wäre die gemeinschaftsrechtliche Einflussnahme illegitim. Interessant wird diese Kritik also, wenn sie am methodischen Vorgehen des Gerichts ansetzt: "Der Europäische Gerichtshof steht außerhalb der Traditionen der nationalen Gerichtsbarkeiten. Er hat sich von Anfang an als Motor der Integration verstanden und ist auch als solcher gefeiert worden. Seinem Verständnis entsprechen die Prinzipien, nach denen er seine Rechtsprechung ausübt. Es sind dies das Gebot praktischer Wirksamkeit, der Sicherung der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaften und des effet utile. Diese Argumentationstopoi lassen sich auf die Formel bringen 'Der Zweck heiligt die Mittel' oder 'Recht ist, was der Integration nützt'. (...) Die diesen Argumentationstopoi innenwohnende Dynamik muss notwendig zu Kompetenzübergriffen führen, Begründungsdefizite heraufbeschwören und die Frage nach dem Mandat zur Rechtsfortbildung zum permanenten Problem erheben. Dem Konzept der argumentativen Entscheidung der deutschen Verwaltungsrechtsprechung steht eine Praxis gegenüber, die in maßgeblichen Teilen von der Autorität, nicht von der Rationalität lebt."
Tatsächlich ist die Notwendigkeit zur Begründung von Gerichtsentscheidungen eine der wichtigsten Errungenschaften des Rechtsstaates. Richtig ist darüber hinaus auch, dass die Begründungskultur des EuGH in ihrem Niveau hinter dem zurückbleibt, was man von deutschen Gerichten fordert. Das hat zum einen mit seinen historischen Wurzeln in der stark positivistisch geprägten französischen Tradition zu tun. Der Obrigkeit, auch in Form der Justiz, wird dort weniger Misstrauen entgegengebracht, als es auf Grund der deutschen Geschichte nahe liegt. Deswegen sind die institutionellen Vorkehrungen zur Mäßigung der richterlichen Gewalt geringer. Zu den historischen Besonderheiten tritt als weiterer Faktor die ungewöhnliche Rolle des EuGH. Er muss eine in vielen Bereichen offene Entwicklung einer Gemeinschaft im Werden begleiten und geht deswegen mit allen starken Festlegungen große Risiken ein.
Aber trotz diese besonderen Bedingungen ist es nötig, auf dem Konzept argumentativer Entscheidung zu bestehen. Denn die fraglose Autorität einer gewachsenen demokratischen Tradition kann die Gemeinschaft nicht voraussetzen. Sie muss sich diese vielmehr erst erarbeiten. Und gerade dabei kommt dem EuGH eine wichtige Rolle zu.
Allerdings ist auch zu berücksichtigen, dass die Abgrenzung zwischen legitimen und illegitimen Formen richterlicher Rechtsfortbildung alles andere als klar und für jeden Juristen einsichtig ist. Zudem steht der EuGH vor neuartigen Problemen, welche die Grenzen des herkömmlichen methodischen Instrumentariums viel schneller sichtbar machen. Das erklärt die Reaktionen eines EuGH Richters auf die scharfe deutsche Kritik: "Derartige Äußerungen mögen teilweise auf fachblinder Fixierung auf einzelne Urteile des Gerichtshofs, auf einer germanozentrischen, auf Abwehr äußerer Einwirkungen gerichteten Sicht des deutschen Rechts, auf mangelhafter Kenntnis des Gemeinschaftsrechts und des Gerichtshofs oder schließlich auf einem überholten Verständnis des Nationalstaats in der modernen Welt beruhen." Trotz der Schärfe wechselseitiger Polemik ist allerdings auch aus der Sicht des EuGH ein sachlicher Kern dieser Debatte nicht zu bestreiten: "Vielmehr müssen sich Gemeinschaft und Gerichtshof der Frage stellen, ob sie nicht selbst zu derartigen Reaktionen beitragen und worauf das beruht. Offenbar ist es dem Gerichtshof nicht durchweg gelungen, seine Urteile als das Ergebnis rationaler Rechtsgewinnung und als Verwirklichung von Recht und Gerechtigkeit im Rahmen der Gemeinschaftsziele darzustellen."
JM II, S. 19 ff. |
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