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Entscheidungsnorm |
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Die Annahme eines Sinngebungsmonopols des Gesetzgebers wird mit einer bestimmten Sicht des Kommunikationsverhältnisses zwischen der Legislative und dem praktisch entscheidenden Juristen begründet. Demnach übermittelt der Gesetzgeber mit Hilfe des Normtextes seine Gedanken an den Rechtsanwender. Der Normtext gilt hier als Instrument der Kommunikation mit der Aufgabe, den Bereich einer direkten mündlichen Mitteilung vom Gesetzgeber an den Rechtsanwender auszudehnen. Die Ausdehnung im „Medium" der Schrift wird dabei als homogen und kontinuierlich vorgestellt; die Wurzel des vom Gesetzgeber geschaffenen Sinns werde durch den Ausdruck im rein passiven Normtext weder verschoben noch beeinträchtigt. Der Ablauf der Zeit, der historische Abstand kann zwar die Ermittlung dieser Wurzel faktisch erschweren, aber grundsätzlich gibt es einen absoluten und mit sich identischen Anfangspunkt, der den Sinn des Textes nicht nur hervorbringt, sondern auch garantiert. In der „richtigen" Interpretation stellt sich die volle Unmittelbarkeit des ursprünglich Gemeinten wieder her, wird der statische Anfangspunkt rekonstruiert. Darin liegt ein auf einheitlichen Ursprung und kontinuierliche Ableitung bedachtes Modell der Textauslegung, demzufolge der Normtext die Gedanken des Gesetzgebers einfach repräsentiert, ohne auf ihren Inhalt oder ihre Struktur im mindesten einzuwirken.
Die dabei zugrundegelegte Vorstellung verfehlt allerdings das tatsächliche Funktionieren der Normtexte in einer Rechtsordnung. Man kann den Gesetzgeber nicht ohne weiteres mit dem Autor eines Textes gleichsetzen und schon gar nicht den Autor mit dem Gravitationszentrum des Textsinns. Die Aufgabe z. B. des Richters ist viel komplexer, als es das dort postulierte Kommunikationsmodell erfassen kann. Denn er kann sich nicht darauf beschränken, im Text verkörperte Gedanken des Gesetzgebers nachzuvollziehen. Diese Vorstellung des Nachvollzugs erweist sich in der Praxis als uneinlösbare Fiktion. Nachvollziehen kann man nur insoweit, als etwas bereits vorvollzogen ist. Der Gesetzgeber kann aber tatsächlich nicht die Entscheidung all der zukünftigen Fälle vorwegnehmen, die dem von ihm erlassenen Normtext zugerechnet werden sollen. Der Normtext kann vielmehr nur dadurch zur Grundlage vielfältiger späterer Einzelentscheidungen werden, dass er von einer Determination durch den „Sender", hier: den Gesetzgeber, abgeschnitten ist. Nur weil bei jeder neuen Entscheidung der Sinn des Textes im Grundsatz nicht einfach nur reproduziert, sondern verschoben wird, können die Leitsätze der einzelnen Entscheidungen der gleichbleibenden Zeichenkette, also dem Normtext, zugerechnet werden. Bei diesem Vorgang wird der Wortlaut, abgelöst vom ursprünglichen Kontext, neuen Zusammenhängen aufgepfropft. Weil seine Bedeutung offen ist für Anreicherung im Rahmen der semantischen Praxis des juristischen Sprachspiels, kann er als Zurechnungspunkt für künftige konkrete Entscheidungen fungieren.
In den meisten Fällen weist der Normbereich sowohl rechtserzeugte als auch nicht-rechtserzeugte Bestandteile auf. So sind im Normbereich von Art. 21 Abs. l S. l GG die tatsächliche Konstituierung politischer Richtungen und Bestrebungen und ihre jeweilige inhaltliche Programmatik nicht rechtserzeugt, wohl aber die rechtlichen Formen der Gruppierung wie: nichtrechtsfähiger Verein, rechtsfähiger Verein usf. Innerhalb des Normbereichs von Art. 6 Abs. l GG sind die Personengemeinschaften in ihrem tatsächlichen Zustandekommen nichtrechtlichen Ursprungs; wohl aber sind die bestimmten Formen, in denen diese Rechtsordnung Personengemeinschaften als „Ehe" und „Familie" anerkennt und schützt, rechtlich begründet und begrenzt155. Der Normbereich von Art. 9 Abs. 3 GG ist sowohl sachlich enger umschrieben wie stärker geregelt als der von Art. 9 Abs. 1. Das im Ausgang vom Normtext durch umfassende Sprachauslegung formulierte Normprogramm bestimmt in seinem Umfang wie in seiner Abgrenzung denjenigen Ausschnitt sozialer Realität, der nicht nur irgendwie in Zusammenhang mit dem „Rechtsbefehl" stehen, sondern der sachlich mitkonstituierend zur Norm gehören soll. Normbereiche wie die des 8. Abschnitts des Grundgesetzes (Art. 83 ff. GG) oder wie beispielsweise solche, die sich auf die Rechtsprechung beziehen (Art. 92 ff. GG), erweisen sich, so wie sie von den entsprechenden Normtexten und Normprogrammen umschrieben werden, als so gut wie vollständig rechtserzeugt und damit als genauer und zuverlässiger bereits im Normtext formulierbar denn die Normbereiche von Grundrechten oder verfassungsrechtlichen Grundsatznormen (wie Art. 20, 21, 79 Abs. 3 GG u. ä.). Im Verfassungsrecht zeigt es sich besonders deutlich, dass eine Rechtsnorm kein gegenüber ihrem Regelungsbereich isolierbares hypothetisches Urteil ist, keine der Wirklichkeit autoritativ übergestülpte Form, sondern
eine ordnende und anordnende Folgerung aus der Sachstruktur des geregelten Sozialbereichs. Dementsprechend erweisen sich „normative" und „empirische" Elemente des fallentscheidenden Rechtsbildungs- und Begründungszusammenhangs als vielfach aufeinander angewiesen und insofern als von gleichrangiger Wirkung. Innerhalb des tatsächlichen Vorgangs praktischer Rechtskonkretisierung sind „Recht" und „Wirklichkeit" keine selbständig je für sich bestehenden Größen. Die Anordnung und das durch sie Geordnete sind prinzipiell gleichrangig wirksame Momente der Konkretisierung von nur relativer Unterscheidbarkeit. Was rechtlich normativ wirkt, erweist sich im Einzelfall aufgrund eines Zusammenspiels von Gesichtspunkten, die in der Rechtsphilosophie herkömmlich als abstrakte Metaphern wie „Norm" und „Faktum" bzw. als deren gleichfalls abstraktes „Verhältnis" auftauchen. Die Grundstruktur der vom Normprogramm zu ordnenden Lebensverhältnisse, in der Rechtsprechung nicht zufällig, wenn auch eher verdeckt als offen, immer wieder zum Bestandteil der Konkretisierung gemacht, prägt die normative Wirkung der Rechtsnorm. Soweit sie in diesem Sinn zum Normbereich gehört, erweist sie sich rechts(norm)theoretisch wie methodisch als Element der rechtlichen Regelung. Auch in dieser Hinsicht wird verständlich, warum ein Rechtssatz nicht einfach „anwendbar" ist, wie der Gesetzespositivismus annehmen wollte. Ausgehend vom Normtext, regelt vielmehr der Rechtsarbeiter über die Zwischenstufe der Rechtsnorm schließlich den konkreten Einzelfall in Gestalt der Entscheidungsnorm. Diese ist keine selbständige Größe neben der Rechtsnorm. Sie ist deren jeweils von einem bestimmten Fall her und auf seine verbindliche Lösung hin abschließend individualisierter Aggregatzustand, d. h.: sie muss ihr methodisch zugerechnet werden können. Mit der Erzeugung der Entscheidungsnorm gewinnt die Tätigkeit des Rechtsarbeiters ihren prägnantesten, praktischsten Ausdruck. Hier wird soziale Realität normativ verändert, in der jeweiligen Schlussaussage „Entscheidungsnorm" wird juristisches Handeln unmittelbar rechtsverbindlich. Sieht man diesen wesentlichen, weil normativen Aspekt von Rechtsarbeit, ist es nicht nur gerechtfertigt, sondern auch geboten, die Betonung auf Entscheidungs„norm" zu legen und diesen Begriff beizubehalten.
JM I, Rnn. 206 ff., 233. |
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