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Einheit der Verfassung |
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Das Prinzip der Einheit der Verfassung wird dahin bestimmt, Verfassungskonkretisierung dürfe nie nur auf die einzelne Norm blicken, sondern müsse sich stets auf den Gesamtzusammenhang erstrecken, in den diese zu stellen ist. Wenn also nur solche Problemlösungen maßstabgerecht erscheinen, die sich frei von einseitiger Beschränkung auf Teilaspekte halten, dann sind auch hiermit Gesichtspunkte innerhalb des Verfahrens systematischer Interpretation getroffen. selbständigen Charakter hat der Grundsatz von der Einheit der Verfassung dagegen insoweit, als er gebietet, Verfassungsrecht so zu interpretieren, dass Widersprüche zu anderen Verfassungsnormen und besonders zu verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen vermieden werden. „Einheit der Verfassung" im Sinn eines Leitbilds verfassungsrechtlicher Methodik soll dem Interpreten als Ausgangspunkt wie vor allem als Zielvorstellung das Ganze der Verfassung als ein zwar nicht spannungsloses und in sich ruhendes, wohl aber als ein sich sinnvoll zusammenschließendes Normengefüge vor Augen stellen.
Die Rede von der Einheit der Verfassung entstammt der Weimarer Zeit. Für Smend ist eine Verfassung die Normierung einzelner Seiten des Vorgangs, in dem der Staat seinen Lebens Vorgang ständig herstellt; sie soll sich daher nicht auf Einzelheiten richten, sondern „auf die Totalität des Staates und die Totalität seines Integrationsprozesses". Das ist ein Denken nicht nur auf das Ganze bin, sondern auch vom Ganzen und seiner Einheit her. Kelsen hat das Bedenkliche dieses Holismus festgehalten. Für ihn ist die Einheit des Staats nur normativ zu begründen, ist die Rechtsordnung nur als logische eine Einheit: mit der Eigenschaft, in Rechtssätzen beschrieben werden zu können, die einander nicht widersprechen. Die formale Größe „Grundnorm" konstituiert die Einheit in der Vielheit der Normen. Demgegenüber wies Carl Schmitt auf das Unzulängliche einer Auffassung hin, die sich auf den positivistisch isolierten Imperativ beschränkt; es ist hinzuzufügen: vor allem auf die sprachliche Vorform der Norm, den Normtext. Doch überrollt der dezisionistisch existierende Wille, der nur sich selber will, jede sachgebundene Normativität; „das Ganze der politischen Einheit" (Schmitt) bietet ein extremes Beispiel für unstrukturierten Holismus. Totalität als Quelle von Argumenten neigt zur Macht und ihrer ungestörten Handhabung. Dagegen stehen im Rechtsstaat die Gebote der Rechts- und Verfassungsbindung, der Tatbestandsbestimmtheit, Methodenklarheit und der zureichenden rationalen Begründung. Ein Schlussfolgern vom Ganzen und seiner Einheit her genügt nicht den Anforderungen an demokratisch gebundene, rechtsstaatlich geformte Methoden.
Eine kritische Untersuchung der Verwendungsweise des Ausdrucks „Einheit der Verfassung" unter formalen, inhaltlichen und methodologischen Gesichtspunkten führt zu klaren Ergebnissen: Das Grundgesetz ist weder notwendig lückenlos noch eo ipso frei von Widersprüchen. Es ordnet aber Textvollständigkeit und Textstrenge, insofern eine formale Einheit der Verfassungsurkunde an. Es weist weder verschiedene Rangstufen auf, noch sondert es einzelne Normengruppen rechtlich von den anderen ab. Das Grundgesetz kennt also eine Einheit der Rangstufe von Rechtsquellen und, abgesehen von den Notstandsvorschriften, eine Einheit seiner normativen Struktur. Für diese Fälle könnte der Ausdruck „Einheit der Verfassung" zwar gebraucht werden, ist jedoch überflüssig. Das dabei Gemeinte ergibt sich aus allgemeinen Eigenschaften der geschriebenen Verfassung bzw. aus einzelnen grundgesetzlichen Normen. Alle Fragen nach einer Einheit der Verfassung werden jedenfalls für das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland durch die Eigenschaften seiner Positivität beantwortet. Die Positivität der Verfassung bewältigt sowohl die Fälle, in denen die Rede von der Einheit der Verfassung am Grundgesetzscheitert (Lückenlosigkeit, Freiheit von Widersprüchen, ideologische Einheit), als auch jene, in denen die Einheitsthese bereits durch positives Recht begründet ist (legitimierende Einheit, funktionale Einheit, Einheit als Mittel systematischer und harmonisierender Verfassungsinterpretation). Dasselbe gilt für die schon oben genannten Typen (urkundliche Einheit, Einheit der Rangstufe von Rechtsquellen sowie der normativen Verfassungsstruktur).
Als Ergebnis bleibt festzuhalten: Der Ausdruck „Einheit der Verfassung" kann auch dort aufgegeben werden, wo er sinnvoll verwendbar wäre. Er darf nicht länger dazu dienen, die Grenze zwischen normorientierten und normgelöst rechtspolitischen Argumenten zu verwischen. Auch der seit Smend beliebt gewordene Rettungsversuch, Einheit als zwar nicht gegeben, wohl aber als aufgegeben zu behandeln, führt nicht weiter. Das macht die höchstrichterliche Praxis ungewollt deutlich. Ist Einheit als Datum weder vorhanden noch einsichtig zu machen, so auch nicht als praktisch anzustrebendes Ziel. Sonst wird nur die eine Illusion durch eine andere ersetzt, die positivistische durch eine antipositivistische. Was dagegen weiterführt, ist eine nachpositivistische Strukturierung des Problemfelds.
Die schillernden Argumente von „Einheit" - sei es der Rechtsordnung im Ganzen, sei es der Verfassung - haben in die Irre geführt. Sie sind Beispiele für einen irrationalen Holismus der Rechtsarbeit, der im Interesse rechtsstaatlichen Handelns der Juristen aufgegeben werden sollte.
JM I, Rnn. 383 f., 387 f. |
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