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Linguistik Rechtslinguistik: Sprache des Rechts
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Bestimmbarkeit
Zunächst setzt Bestimmbarkeit eines Textes voraus, dass es eine Argumentationskultu gibt, die dem Rechtsunterworfenen ein Willkür ausschließendes Maß an Vorhersehbarkeit bietet. Dazu bedarf es politischer Entscheidungen in Form von methdodenbezogenen Vorschriften, die für die Arbeit des Rechtsfunktionärs verbindlich sind. Außerdem muss die Wissenschaft Standards entwickeln, die den einzelnen Rechtsarbeiter in die Lage versetzen, wiederkehrende Figuren einer Argumentation zu benennen und zu gewichten. Und natürlich müssen die Entscheidungsträger in Studium, Prüfung und Berufspraxis entsprechend ausgebildet oder besser und realistischer: konditioniert werden.

Aber auch wenn eine wissenschaftliche Argumentationskultur die für die Konkretisierung nötigen Kontexte benennt und hierarchisiert, besteht in jedem praktischen Fall die Möglichkeit, dass diese Kontexte genauer betrachtet werden müssen oder dass neue eingebracht werden. Auch eine Methodik oder Kultur des Lesens kann die Konkretisierung nicht zu einem vollkommen beherrschbaren und voraussagbaren Vorgang machen. Dafür sorgt die unumgehbare Unendlichkeit der Kontexte. Die am Rechtsstreit beteiligten Parteien haben auch jedes Interesse daran, diese interne und externe Unendlichkeit zu nützen, um die Lesart des Prozessgegners zu erschüttern. Für diese Konflikte als semantischen Kampf (semantische Kontroverse) muss eine Form bereitgestellt werden, welche die doppelte Aufgabe erfüllt, dem Konflikt Raum zu bieten und ihn gleichzeitig zu verendlichen. Ein rechtsstaatliches Verfahren, das Waffengleichheit und Subjektqualität für alle am Interpretationskonflikt beteiligten Personen garantiert, kann diese Aufgabe erfüllen.

Aber auch Text, Interpretationskultur und rechtsstaatliches Verfahren zusammengenommen bilden keine Grundlage für eine Determination der einzelnen Fallentscheidung. Die Entscheidung bleibt immer und notwendig im Bannkreis des Satzes vom unzureichenden Grund. Der Richter erkennt nicht die Fallösung, die er dann in seinem Sprechen vollzieht, sondern er übt die ihm von Art. 92 GG übertragene richterliche Gewalt aus, indem er eine Entscheidung trifft. Mit dieser setzt l er sich über die von den Parteien vorgetragenen Lesarten hinweg, ohne dies durch den Hinweis auf eine objektive Tatsache im Text oder in der Sprache rechtfertigen zu können. Deswegen muss auch diese Dimension als Grenze in das Problem der Bestimmbarkeit des Normtextes einbezogen werden. Wenn die Aufgabe des Richters darin liegt, einen Konflikt zwischen verschiedenen Lesarten zu entscheiden, müssen Garantien für seine Neutralität bestehen und darf er nicht politischen, sondern nur im engeren Sinn rechtlichen Bindungen unterworfen sein.

Erst wenn man also die Bestimmbarkeit des Normtextes im Gesamtrahmen der für die Konkretisierung wichtigen Umstände betrachtet, lässt sie sich als normative Anforderung präzisieren: Bestimmbarkeit heißt nicht, dass der Normtext die Entscheidung schon vorgibt. Denn Subjekt der Konkretisierung ist - beispielsweise der Richter, und seine Entscheidung lässt sich nie vollkommen in Gründe auflösen. Damit ist die positivistische Illusion von sprachlicher Bestimmtheit verlassen. Das heißt aber andererseits nicht, dass die Entscheidung als absolute Größe außerhalb der Welt des Rechts „dezisionistisch" residiert. Sie wird vielmehr innerhalb des Rechts erschwert und beeinflusst (in Luhmanns Ausdrucksweise: „irritiert") durch die Sprache des Gesetzes, durch die methodischen Anforderungen, das Verfahren und die Bindungen des Richters. Erst wenn man Determination durch („irritierende") Beeinflussung der Entscheidung ersetzt, wird Bestimmbarkeit eine sinnvolle und damit einlösbare Größe. Anders gesagt: Der Rechtsstaat kann sinnvoll nichts Illusionäres fordern, also nicht die Bestimmtheit (Fixiertheit) von Rechtsbegriffen und ihren Bedeutungen. Dagegen verlangt er etwas Realisierbares: die Bestimmbarkeit des Verfahrens und der Ergebnisse von Rechtsarbeit, also ehrliche Methodik, nachvollziehbare und in diesem Sinn transparente Arbeitsvorgänge.

Von hier aus lassen sich dann auch die sprachlichen Anforderungen formulieren, die an einen Normtext zu stellen sind, wenn er diese Aufgabe erfüllen soll: Damit sich im Rahmen eines geordneten Verfahrens und einer bestimmten Argumentationskultur rechtliche Bindungen an einen Normtext entfalten können, bedarf es einer Ausdrucksweise von hinreichend scharfer Intensionstiefe. Dieser Begriff ist bezogen auf das Ziel der Beeinflussung des Entscheidungsvorgangs und macht eine große Menge nicht systematisierender juristischer Erfahrungen formulierbar. Es gehört zum Erfahrungswissen der Praxis, dass ein Normtext vom Sachverhalt her um so mehr der Möglichkeit einer Manipulation offen steht, je weniger Merkmale er aufweist. Im Extremfall wäre ein Normtext der Form „Jeder Gauner ist zu bestrafen" der Bildung beliebiger individuierender Handlungssätze weitestgehend ausgeliefert. Dagegen setzt ein ausdifferenzierter Normtext mit möglichst vielen Merkmalen der Bildung solcher Handlungssätze prinzipiell mehr Schwierigkeiten entgegen, die durch Universalspezialisierung aus dem grammatisch allgemeinen Handlungssatz des Normtextes gewonnen werden und als korrekt abgeleitet gelten können. Daraus könnte man nun folgern, einer aufzählenden Kasuistik sei der Vorrang gegenüber einer abstrakt-generellen Formulierung einzuräumen. Doch eine solche Kasuistik hätte den unter Juristen bekannten Nachteil, dass man nicht nur in der Gefahr stünde, die Vielfalt des Regelungsgegenstandes zu verfehlen, sondern auch die Gesetzbücher zu nicht mehr handhabbarer Größe aufzublähen. Wenn man nun statt dessen einer abstrakt-generellen Formulierung den Vorzug einräumen will, muss man in Hinblick auf die dann größere sprachliche Offenheit anderweitige Vorkehrungen gegen die Missbrauchsgefahr treffen. Man muss also bei abstraktgenereller Formulierung viel größere Sorgfalt auf die drei weiteren Bedingungen für das Funktionieren eines Rechtssatzes legen, nämlich auf die Garantien einer transparenten Argumentationskultur, eines rechtsstaatlichen Verfahrens und entsprechender Bindung des Richters. Um die Gefahren beider Strategien möglichst herabzusetzen, bietet sich eine kombinierte Anwendung der genannten gesetzgeberischen Regelungstechniken an. Eine offene Aufzählung von Beispielen kann ergänzt werden durch eine abstrakt-generelle Formulierung, so dass deren Offenheit durch den Vergleich mit den konkreten Beispielsfällen eingeschränkt werden kann. Grammatische und systematische Auslegung bieten dann für die Konkretisierung oft schon ausreichende Anhaltspunkte. Allgemein formuliert: Je präzisere Kontexte ein Gesetzgeber für die anschließenden Interpretationen bereit stellt, um so größer ist das Ausmaß an Einfluss auf die Entscheidung.

Damit führt auch eine semantische Analyse zum realistischen Einschätzen dessen, was die Sprache für die Probleme des Rechtssetzung zu leisten vermag. Der Handlungssatz gleicht dem Kippbild, das Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen verwendet, und das je nach Drehung der Betrachtung als Hase oder Ente erscheint. Dieser ambivalente Charakter macht deutlich, dass in jedem Anwendungsfall auch die Regel selbst auf dem Spiel steht. Sie ist nicht als sichere Grundlage der technischen Anwendung übergeordnet, sondern ist ihrerseits der Praxis ausgeliefert. Ihr Charakter kann durch die Anwendung verändert werden. Deswegen muss man sich von der heute noch zuweilen gepflegten Illusion verabschieden, es ließen sich von der Regel her die positiven und negativen Kandidaten der Anwendung klar vom Vagheitsbereich der kritischen Fälle trennen. Jede „Anwendung" des Gesetzes ist auch für die Regel selbst ein kritischer Fall. Deswegen ist Bestimmtheit des Normtextes durch Bestimmbarkeit zu ersetzen und Determination der Entscheidung durch Beeinflussung.

JM I, Rnn. 179 ff.
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