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romanische Begründungstradition |
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Die romanische Tradition ist besonders stark an der klassischen Vorstellung des Gesetzbuchs orientiert. Die von der Aufklärung geschaffenen Kodifikationen, wie der Code civile, galten sehr lange als lücken- und widerspruchslos. Hier wirkte noch stark die christliche Vorstellung des heiligen Buches als mediales Paradigma nach. Die im Buch gerundete Totalität hat keine "losen Enden", an die Rechtsmeinungen, Schriftsätze, Kommentare und Fußnoten anknüpfen könnten. Vielmehr ist das Gesetz als „manifestation de la volonté souveraine“ ein in sich vollkommen geschlossenes Ganzes. Die Rolle des Gesetzbuchs wird überschätzt und spiegelverkehrt die Rolle des Richters klar unterschätzt: „Das Gesetz galt allgemein als die Magna Charta der Freiheit, der Richter aber nur als sein gehorsamer Diener und Vollstrecker.“ Der Gedanke, dass im Gesetz die Lösung für alle künftigen Fälle nicht schon enthalten sein könne, hat sich in der Wissenschaft erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts langsam durchgesetzt. Die Ersetzung der École de l’exégèse durch die École scientifique contemporaine führte dazu, dass der Wirklichkeitsbezug des Rechts soziologisch thematisiert wurde und dass die Umwandlung von sozialer Tatsächlichkeit in rechtlich strukturierte Aussagen von der Methodik überhaupt bemerkt werden konnte. Eine weitere wichtige Folge dieser Entwicklung lag darin, dass der Wortlaut des Gesetzes mit der Konkretisierungsleistung der grammatischen Auslegung nicht mehr gleichgesetzt wurde, sondern dass nun auch die anderen Instrumente der juristischen Textarbeit zur Semantik des Textes zählten. Wenn in der deutschen Kritik dem EuGH immer wieder vorgehalten wird, er gehe mit der systematischen und teleologischen Interpretation über den Wortlaut hinaus, so ist dieser Vorwurf aus der Sicht der französischen Tradition schwer nachvollziehbar. Die Stärke dieses Traditionsstrangs liegt also darin, dass die Semantik des Textes nicht auf die Bedeutungserkenntnis qua grammatischer Auslegung reduziert wird, sondern dass sie als holistische Aufgabe erscheint, welches den Einsatz aller Canones erfordert.
Trotz dieser Öffnung zum sozialen Umfeld und zum holistischen Problem der Textbedeutung hin bleibt die romanische Tradition von einem naiven, d.h. nicht sprachkritisch durchdachten Verständnis von Gewaltenteilung und rechtsstaatlicher Demokratie geprägt. Das zeigt sich gerade bei der Begründung von Gerichtsentscheidungen: „Übereinstimmend stellen die Gerichte ihre Entscheidungen als einfache, zwingende Deduktion aus den Rechtssätzen dar. Sie sprechen als 'bouche de la loi' in der Tradition Montesquieus und lassen keinen Zweifel an der Richtigkeit ihres Spruches erkennen. Erwägungen der materiellen Gerechtigkeit oder rechts- und gesellschaftspolitische Überlegungen, wie sie jedes Gericht anstellt, werden nach außen nicht sichtbar. Der Schein strenger Gewaltenteilung im traditionellen Sinn wird gewahrt. Der Geltungsanspruch, mit dem die Urteile gesprochen werden, lässt ein gefestigtes Verständnis vom Staat und seiner auf Tradition beruhenden Autorität erkennen. Dieser Staat braucht die Rechtsgenossen nicht zu überzeugen, er erwartet Gehorsam von dem Bürger gegenüber dem, was die Gerichte als Recht formulieren.“ Der Rationalismus der Aufklärung mündet so in den Irrationalismus des Obrigkeitsstaats. Die juristische Sprache beeindruckt zwar die Laien, aber sie wird von den Juristen selbst als unklar und orakelhaft empfunden, so dass auch in der romanischen Welt längst eine Änderung der Begründungspraxis gefordert wird. Der Rationalismus, der einst genügte, um die feudale Ordnung zu kritisieren, genügt den Kommunikationsbedingungen einer pluralistischen Demokratie nicht mehr. Das heißt zwar nicht, man müsse den Rationalismus verwerfen. Aber man hat ihn heute auf seine medialen Bedingungen hin zu reflektieren.
JM II, S. 419 f |
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