Neben Stellenwert und Bandbreite der Rechtstheorie wirken hier auch historische Besonderheiten mit, die eine fraglose Identifikation mit der Obrigkeit ausschließen. Das hat Folgen bis in den Stil gerichtlicher Begründungen hinein. Die Urteilspraxis deutscher Gerichte unterscheidet sich schon von der äußeren Form her erheblich von jener in der romanischen Tradition: „Ihre Urteile sind oft umfangreich und setzen sich jedenfalls bei wichtigen Rechtsfragen ausführlich mit den in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Ansichten auseinander. Urteile des Bundesverfassungsgerichts lesen sich gelegentlich wie Monografien. Deutsche Gerichte sind bemüht, durch richtiges methodisches Vorgehen und durch Wissenschaftlichkeit argumentativ zu überzeugen, während die Gerichte der meisten anderen Staaten in der Regel autoritativ entscheiden und die Legitimation in der 'Richtigkeit' der Entscheidungen suchen. Dieses unterschiedliche Vorgehen dürfte tieferliegende geschichtliche Ursachen haben. Die meisten Mitgliedstaaten sind weitgehend gefestigte Nationalstaaten, die davon ausgehen können, dass ihre Institutionen einschließlich der Gerichte von einem allgemeinen Konsens getragen sind. Von den deutschen Gerichten wird das offenbar nicht so selbstverständlich vorausgesetzt. Das dürfte mit den mehrfachen Brüchen in der nationalen Geschichte zusammenhängen. Deutsche Gerichte bemühen sich, durch Rationalität und Überzeugungskraft die Basis dafür zu schaffen, dass die Rechtsprechung insgesamt als Verwirklichung von Recht akzeptiert wird.“ Dem deutschen Modell kommt damit zwischen der romanischen und der angelsächsischen Wurzel der europäischen Begründungspraxis eine wichtige Mittlerrolle zu.