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angelsächsische Begründungstradition |
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Die angelsächsische Tradition steht in scharfem Gegensatz zur romanischen. Das wird vor allem am zentralen Paradigma des Gesetzbuchs deutlich. Aus der Sicht der klassischen kontinentalen Lehre handelt es sich bei diesem um eine in sich geschlossene Ganzheit, die alle künftigen Fälle lückenlos zu regeln vermag. Im angelsächsischen Recht herrscht demgegenüber die Vorstellung des „Amendment“. Danach dient das Statue Law nur der Ergänzung und Verbesserung des Gewohnheitsrechts. Eine geschlossene, die Zukunft vorwegnehmende Kodifikation ist so ein fernliegender Gedanke.
Im kontinentalen Modell war das Überschätzen des Gesetzbuchs mit einem Unterschätzen der Rolle des Richters verknüpft. Auch in dieser Hinsicht ist eine realistische Korrektur zu erwarten. Aus kontinentaler Sicht pflegt man im angelsächsischen Recht eine herausragende Stellung der Richter, die ihnen eine Machtfülle und ein soziales Ansehen verschaffen, welche persönlich geprägte Urteilssprüche zulassen. Das schlägt sich auch im Stil richterlicher Begründungen nieder: „Ein wesentlicher Unterschied zum kontinentalen Urteilsstil besteht vor allem in der persönlichen Färbung. Der Richter begründet die Entscheidung meist mündlich, und auch die schriftliche Fassung lässt das gesprochene Wort erkennen. Das Gericht ist keine anonyme Autorität, sondern die Persönlichkeit des Richters, bei Kollegialgerichten die des die Begründung vortragenden Mitglieds, die oft durch seine Kollegen ergänzt wird, wird sichtbar. Er scheut sich nicht, im Ich-Stil Meinungen zu bekennen und seine subjektive Einschätzung als solche zu kennzeichnen. Deshalb bestehen auch keine Bedenken gegen dissenting opinions, die in Frankreich nicht und in Deutschland nur beim Bundesverfassungsgericht zugelassen werden. Damit hängt zusammen, dass die Richter auch Erwägungen des Gemeinwohls oder der Einzelfallgerechtigkeit offen aussprechen, soweit ihnen die Präjudizien ausreichenden Spielraum einräumen.“
Eine weitere wichtige Folge aus dem fehlenden Glauben in die umfassende Kodifikation betrifft die Methode des Argumentierens. Es geht aus angelsächsischer Perspektive nicht um die Lösung eines abstrakten Rechtsproblems, sondern um die Herstellung von Gerechtigkeit im vorliegenden Fall. Man kann deshalb auch nicht aus der Kodifikation deduzieren, sondern muss induktiv von „precedent to precedent“ vorgehen.
Allerdings ist die problemorientierte und induktive Vorgehensweise vor allem für den Bereich des Common Law kennzeichnend, nicht dagegen für den immer weiter wachsenden Bereich des Statue Law. Hier herrscht ein sehr enger Textbegriff, orientiert an der grammatischen Auslegung, der vor allem Überlegungen teleologischer und historischer Art weitgehend ausschließt. Diese enge Auslegung erklärt sich aus dem Bestreben, den Anwendungsbereich des Common Law gegenüber der Ausdehnung des Statue Law zu verteidigen. Das Gemeinschaftsrecht mit seiner notwendig starken Betonung von Zweck und Systematik muss daher für die angelsächsische Tradition als „incoming tide“ erscheinen, die einen grundlegenden Wandel in der Methode erfordert: „It would be absurd that the Courts of England should interpret it differently from the Courts of France, or Holland, or Germany (...) we must therefore, put on one side our traditional rules of interpretation. We have for years tended to stick too closely to the letter – to the literal interpretation of the words. We ought (...) to adopt the European methods (...) In interpretation of the treaty of Rome (which is part of our law) (...) we must certainly adopt the new approach.”
Schließlich ist als Gegenstück zur kontinentalen Begründungskultur ein zentraler Aspekt der angelsächsischen Tradition hervorzuheben: Im Vergleich zur deduktiven romanischen Tradition bemühen sich die Richter hier vor allem um eine überzeugende Rechtfertigung der getroffenen Entscheidung. Das Verfahren erscheint dann als Quelle von Argumenten, die es nicht nur zu diskutieren, sondern auch in der Begründung zu verarbeiten gilt. Das liefert ein Element, welches für die Überwindung der sprachlichen Naivität des kontinentalen Rechtsstaatsverständnisses entscheidend wird. Nicht die Sprache des Gesetzes erbringt bereits die Grundlage des Urteils, sondern erst das Verfahren mit den Argumenten der Beteiligten. Es zeigt sich so ein praktischer Weg, um die Schranken des alten Kodifikationsdenkens zu überwinden. In seiner Charakteristik des angelsächsischen Begründungsstils formuliert der EuGH-Richt Ulrich Everling: „In den Urteilen kommt ferner das weitgehend von den Prozessparteien bestimmte Verfahren zum Ausdruck. Das Gericht ist mehr als auf dem Kontinent Streitschlichter zwischen widerstreitenden Gegnern. Vortrag und Argumentation der Parteien spielen eine erhebliche Rolle und erfordern Antworten. Der Stil der Urteile ist meist bewundernswert lebendig und plastisch.“
JM II, S. 422 ff. |
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