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Begründung, Defizite beim EuGH |
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Der EuGH hat für seinen Begründungsstil noch keine endgültige Lösung gefunden. Das ist nicht verwunderlich, wenn man das Oszillieren der nationalstaatlichen Traditionen zwischen Semantik und Pragmatik berücksichtigt. Die Begründung eines gerichtlichen Urteils ist eben nicht nur eine logische und noch nicht einmal eine rein semantische Frage. Vielmehr geht es um das umfassendere Problem, wie viel Begründung eine Rechtsgemeinschaft fordert, um richterlichen Urteilen Legitimität zuzubilligen. Deswegen ist es angemessen, dass der EuGH die Begründungsfrage pragmatisch handhabt, indem er seine Praxis der Bewährung durch die wissenschaftliche Kritik aussetzt und dann weiterentwickelt. Als Fluchtpunkt dieser Evolution lässt sich eine größere Begründungsleistung erkennen, die allmählich den Übergang von der Semantik zur Pragmatik des Gesetzes vollzieht.
Bei seiner Errichtung im Jahr 1952 war für den EuGH vor allem die romanische Tradition bestimmend. Erst 1979 hat sich das Gericht vom traditionellen französischen Urteilsstil („vu que“, „considérant que“) abgelöst. In der Folge dieser Entwicklung wurden auch die knappen Begründungen der romanischen Tradition zugunsten einer ausführlicheren Darstellung überwunden. Diese bleibt allerdings immer noch hinter der Leistung englischer und deutscher Gerichte zurück: Nationale Gerichtsbarkeiten werden in der Regel nicht zitiert, eine Diskussion von Meinungen aus der Wissenschaft findet nicht statt und Dissenting opinions sind nicht erlaubt.
Es gibt aber auch noch andere Tendenzen: „Der Gerichtshof ging (...) in den 60er und 70er Jahren immer mehr dazu über, an frühere Urteile anzuknüpfen. Dazu trug wesentlich der Einfluss der englischen Juristen nach dem Beitritt Großbritanniens bei. Heute kann man fast von einer Präjudizienpraxis sprechen. (...) Das schrittweise Vorgehen von Fall zu Fall kennzeichnet die Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof. Allerdings muss der Gerichtshof Aussagen früherer Urteile gelegentlich ändern oder aufgeben. Das geschah bisher ohne ausdrücklichen Hinweis. Erst neuerdings hat er sich dazu offen bekannt und in drei spektakulären Urteilen ausdrücklich frühere Urteile korrigiert. Meist versucht er aber auch heute noch Formulierungen zu finden, mit denen er die vorangegangenen Urteile modifiziert und spezifiziert, ohne es zuzugestehen.“ In der Gesamtbilanz überwiegen also noch deutlich die Defizite und erklären damit die geringe Überzeugungskraft der Begründungen des Gerichtshofs für die argumentativen Traditionen des deutschen und angelsächsischen Rechtskreises.
Allerdings findet man die fehlenden Teile der Begründung meist in den Schlussanträgen der Generalanwälte. Hier wird eine ausführliche Darlegung der sprachlichen Plausibilitätsräume in den verschiedenen Mitgliedstaaten vorgenommen. Wenn man sich als Philolog oder Linguist der Mühe unterzieht, diese oft sehr detaillierten Untersuchungen nachzuvollziehen, lernt man viel und entwickelt einen großen Respekt vor der Leistung dieser Institution. Auch was die Arbeit an Systematik und Entstehungsgeschichte betrifft, findet man hier Erwägungen, die in ihrer Ausführlichkeit der Arbeit deutscher Gerichte nicht nur entsprechen, sondern sie noch übertreffen. Nur hier, in den Schlussanträgen des Generalanwalts, findet man die Praxis der für die Gemeinschaft so wichtigen rechtsvergleichenden Interpretation. Offen ist nur die Zuordnung dieser wissenschaftlichen Schätze. Gehören sie zur Begründung des Gerichts oder zum Prozessstoff? Jedenfalls folgt der EuGH den Schlussanträgen nicht immer; und auch wenn er das tut, ist damit immer noch offen, ob er das Vorbringen des Generalanwalts übernimmt oder nicht. Leider findet sich in den gerichtlichen "Gründen" nur selten ein ausdrücklicher Bezug auf die Schlussanträge. Die vorhandenen Verweise betreffen sowohl den Sachverhalt als auch die methodische Argumentation. Zur Darstellung des Sachverhalts lauten solche Verweise typischerweise: "Wie der Generalanwalt in Nr. 101 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist unstreitig, dass die Lebenshaltungskosten in Karlsruhe in dem streitigen Zeitraum eindeutig niedriger waren als in Berlin." Oder: "Wie der Generalanwalt in den Nrn. 55 bis 110 seiner Schlussanträge zu Recht ausgeführt hat, hat die Kommission zahlreiche Umstände vorgetragen, die zu belegen geeignet sind, dass die betroffene Ware den Qualitätsanforderungen des Artikels (...) weder zum Zeitpunkt der Ausfuhr, noch bei ihrem Eintreffen am Bestimmungsort genügt hat." Es finden sich allerdings auch Verweise aus den Gründen in die Schlussanträge für methodische Argumente: "Wie der Generalanwalt in Nr. 22 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, kann bei der Übertragung des Betriebs auf einen anderen Erzeuger (...) nur diese Auslegung (...) gewährleisten, dass die Höchstzahl von 90 Tieren (...) nicht überschritten wird." Vorbildlich ist der Verweis auf die Schlussanträge des Generalanwalts in der Entscheidung C-6/98 vom 28.10.1999, worin es um Sendezeiten für Werbung im Fernsehen und die Auslegung des Begriffs "programmierte Sendedauer" geht. Der EuGH verweist hier dreimal auf die Schlussanträge des Generalanwalts, in denen sich sorgfältige grammatische, genetische und historische Auslegungen finden. So heißt es in Rn. 23 der Entscheidung: "Wie der Generalanwalt in den Nrn. 18 bis 25 seiner Schlussanträge festgestellt hat, lassen die auf den Wortlaut des Art. 11 Abs. 3 der Richtlinie 89/552 in ihrer geänderten Fassung gestützten Argumente keinen eindeutigen Schluss darauf zu, ob diese Vorschrift das Brutto- oder das Nettoprinzip vorschreibt."
Hier könnte die nötige Weiterentwicklung im Hinblick auf ein stärker argumentatives Begründungskonzept ansetzen. Das Gericht müsste die Teile der Schlussanträge, die seine Entscheidung mitkonstituieren, in die "Gründe" übernehmen. Dafür würde auch sprechen, dass es selbst die Institution des Generalanwalts dem Gericht zurechnet und deshalb im Unterschied zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Stellungnahme der Prozessbeteiligten insoweit nicht für nötig hält.
JM II, S. 432 ff
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