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Bedeutung, Geltung |
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Wenn die Strukturierende Rechtslehre von der funktionellen Geschlossenheit der Rechtsordnung im Sinn einer Ergänzung von materiellen Regeln durch Prozessrecht ausgeht, zieht sie aus der Sicht dieses Ansatzes den Vorwurf auf sich, dass der Richter im gesetzesfreien Bereich ohne jede objektive Legitimationsvoraussetzung entscheiden müsse. Daran ist mehreres falsch: einmal reduziert die Strukturierende Rechtslehre die Konkretisierungsleistung des Gesetzes nicht auf den eindeutigen Wortlaut und braucht deshalb einen „gesetzesfreien" Bereich richterlichen Entscheidens gar nicht erst anzunehmen. Zum ändern hat der Richter auch im Bereich des Gesetzes keinen objektiven Rechtsgegenstand als vorgegebene Legitimationsgrundlage, sondern muss diese Legitimation durch Begründung der geschaffenen Rechtsnorm erst herstellen. Für die Strukturierende Rechtslehre ist ein Urteil eine Entscheidung, die zwar durch Anschlusszwänge im juristischen Sprachspiel erschwert wird, die aber niemals als technische Anwendung einer Erkenntnis des objektiv vorgegebenen Rechtsgegenstandes verstanden werden kann. Der Gesetzgeber und die Gerichte sind also strukturell gekoppelt. Das heißt, gesetzgeberische Vorgaben in Form von Normtexten können in Verbindung mit den Vorschriften des Verfahrens und den sprachlichen Anschlusszwängen und Begründungslasten den Entscheidungsvorgang zwar rechtsstaatlich irritieren, aber nicht substantiell vorabdeterminieren.
Die alte Auffassung will demgegenüber Gesetz und Entscheidung linear kausal miteinander verknüpfen. Das richterliche Sprechen soll auf dem Weg über die Erkenntnis eines präexistenten Gegenstandes determiniert werden; und dort, wo das Gesetz diese Determination nicht leisten kann, soll etwas anderes einspringen. Die Vorstellung, das juristische Handeln funktioniere nach dem Modus der Gegenstandserkenntnis, führt so zur Figur der Lücke und diese zur Ersetzung des Gesetzes durch die Gerechtigkeit. Die Rechtsordnung ist von außen, gemessen am gesellschaftlichen Regelungsbedarf unvollständig; aber von innen zugleich vollständig, weil nur der normativ anerkannte Regelungsbedarf der Gesellschaft juristisch relevant ist und die richterliche Entscheidung immer nur am geltenden Recht gemessen werden kann. Von einer „Lücke" kann man dagegen nur sprechen, wenn man ein Problem entgegen dem Gesetz als regelungsbedürftig ansieht. Dies lässt sich dann begründen, wenn man einen normtranszendenten Maßstab von Gerechtigkeit heranzieht, der so im Gesetz gerade (noch) keinen Ausdruck gefunden hat.
Dabei zeigen sich zugleich auch die Grenzen der Möglichkeit sprachlicher Festlegung gesetzlicher Tatbestände durch den Normtext. Als ein grammatischer Ausdruck kann der Normtext die rechtliche Entscheidung über Episoden des sozialen Zusammenlebens nicht schon vorgeben. Vielmehr können mit ihm nur die Bedingungen dafür gesetzt werden, zu solchen Entscheidungen zu kommen. Der Normtext gibt in seiner Tatbestandsbestimmung nicht bereits einen Begriff der geregelten Sachverhalte. Vielmehr zeichnet er lediglich die Form vor, in der solche Begriffe zu bilden sind. Und er enthält auch nicht schon Beschreibungen, die sich mit Wahrheitsanspruch von den betreffenden Vorgängen des sozialen Lebens behaupten ließen. Tatsächlich zeigen die Festlegungen des Normtextes lediglich die Bedingungen an, unter denen aufgrund von Belegen über solche Wahrheitsansprüche zu entscheiden ist. Der Normtext gibt damit zwar einen Rahmen vor, in dem die Bestimmtheit rechtlicher Regelungen erreicht werden kann. Zugleich setzt er jedoch den Vorgang der Normkonkretisierung einer doppelten Entscheidungsungewißheit aus. Bestimmtheit kann so alles in allem keine Eigenschaft von Gesetzestexten sein. Vielmehr ist sie auf eine Strategie des Gewinns von Wahrheit für die nach den grammatischen Vorgaben des Normtextes zu bildenden Handlungssätze verwiesen. Für diese Strategie stellt sich dann weiter die Frage nach ihrer Ausgestaltung als Verfahren unter der verfassungsrechtlichen Forderung, Rechtssicherheit zu gewähren. Einmal mehr bestätigt dies übrigens die von der Strukturierenden Rechtslehre vorgeschlagene Unterscheidung zwischen der Geltung eines Normtextes und der Bedeutung der Norm. Bezeichnenderweise war von Bedeutungen in dem hier demonstrierten Theorieaufbau insoweit nicht die Rede, sondern stattdessen von Struktur und Entscheidung, von Festlegung und Form, die allesamt den Weg zu einer bestimmten Bedeutung des Normtextes, die die Rechtserzeugung zu erbringen hat, erst eröffnen und sozusagen planieren.
Ungeschminkt betrachtet, dient der Gesetzestext technisch als Ansatzpunkt, legitimatorisch als Durchzugsgebiet für miteinander konkurrierende, für einander widersprechende Interpretationsvarianten. Das macht jeder Blick in einen Gesetzes- oder Verfassungskommentar augenfällig: zahlreiche, manchmal Hunderte von Textseiten zu ein, zwei, drei Sätzen des darüber thronenden kargen Normtextes - (Art. X der Konstitution, § Y des Gesetzes).
JM I, Rnn. 145, 177 |
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