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historische Auslegung |
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In Lehre und Rechtsprechung werden genetische und historische Elemente nicht selten miteinander vermengt. So bezeichnet etwa das Bundesverfassungsgericht die Auslegung aus „Gesetzesmaterialien und Entstehungsgeschichte" als „historische". Korrekt heißt diese Auslegung, von der das Gericht spricht, die genetische. Die historische ist dagegen die rechtsgeschichtliche (gesetzgebungsgeschichtliche) anhand der Texte von Normvorläufern, Normvorbildern als Antwort auf die Frage: Wie war das denn früher geregelt?
Die historische Auslegung arbeitet also mit
(a) Normtexten, und zwar (b) mit anderen Normtexten als den im vorliegenden Fall zu bearbeitenden, nämlich mit früheren, nicht mehr geltenden Wortlauten. Von der systematischen Auslegung, bei der ebenfalls andere Vorschriften vergleichend herangezogen werden, unterscheidet sich die historische dadurch, dass außer Kraft gesetzte Normtexte sowie mit ihrer Hilfe entwickelte Rechtsnormen mit gleichem, ähnlichem oder zumindest funktionell vergleichbarem Normprogramm, und zwar aus älteren Zeitabschnitten, in die Überlegung eingefühlt werden.
Die genetische Auslegung arbeitet mit
(a) Nicht-Normtexten (Diskussionen, Überlegungen, Entwürfe, Parlamentsreden, Ausschussberichte, amtliche Begründungen) aus der rechtspolitischen Debatte, vor allem aber aus den Verhandlungen der legislativen Gremien; und zwar betreffen diese Texte (b) die Entstehungsgeschichte und Gesetzgebungsmaterialien derselben Normtexte, nämlich der im Fall zu bearbeitenden.
Als Beispiel soll die Konkretisierung der Art. 73 ff. GG dienen. Bei genetischer Auslegung wird die Frage gestellt: Was wurde zum fraglichen Problem im Parlamentarischen Rat (und in den Verhandlungen von Herrenchiemsee) gesagt? Die historische Auslegung argumentiert aus Inhalt und Typik der Kompetenzverteilung zwischen Reich und Ländern nach der Weimarer Reichsverfassung (oder ggf. auch nach der Reichsverfassung von 1871).
Gegen die dargestellte Unterscheidung von historischem und genetischem Konkretisierungselement wendet sich in der neueren Diskussion Schroth mit dem Einwand, das Verstehensobjekt, die Handlung des Gesetzgebers, sei bei beiden Elementen dasselbe. Betrachtet man dieses „Verstehensobjekt" aber näher, wird; der Einwand fragwürdig. Dass es einen einheitlichen und homogenen Willen des Gesetzgebers als Gegenstand des Verstehens nicht gibt, muss auch Schroth einräumen. Wenn er an die Stelle des gesetzgeberischen Willens dann aber die Handlung der Legislative setzen will, hat er das Problem fehlender Homogenität der Bezugsgröße aber noch nicht überwunden. Vielmehr setzt er nur einen moderner klingenden Namen an die Stelle des alten. In der Sache ist demgegenüber ein Fortschritt erst dann möglich, wenn die Illusion einer einheitlichen Bezugsgröße der historischen beziehungsweise genetischen Auslegung aufgegeben ist und die in den Materialien zu findenden Äußerungen als diskursives Netz, als diskursive Strategie in den Zusammenhang einer Semantik kompetitiven Handelns eingeordnet werden. Die im Umkreis der „Paktentheorie" unternommenen Versuche, Einzeläußerungen, von Parlamentariern anhand der Mehrheitsregel, der Zuordnung zu Meinungsgruppen usw. zu gewichten, weist schon innerhalb der bisherigen Debatte in diese Richtung. Diese Ansätze gilt es auf dem Weg über sprachtheoretische Reflexion zu entfalten. Wenn sich die Fiktion eines einheitlichen Objekts des Verstehens damit auflöst, zeigt sich als dessen eigentlicher Gegenstand der Normtext. Im Verlauf der Konkretisierung werden zu ihm Kontexte erschlossen, die es voneinander abzuschichten und entsprechend ihrer Nähe zum fraglichen Normtext zu gewichten gilt. In diesem Rahmen von Relationen ist auch die Unterscheidung von historischem und genetischem Konkretisierungselement berechtigt.
Historische, genetische, systematische und ideologische Elemente der Konkretisierung können sowenig voneinander und vom Verfahren grammatischer Auslegung isoliert werden wie dieses von ihnen. Die genetische, die historische und die systematische Auslegung sind eng mit der grammatischen verwandt: Auch sie sind Mittel der Textinterpretation (und zwar andrer - teils legislativer, teils nicht-legislativer - Texte neben dem Wortlaut der umzusetzenden Vorschrift). Es lässt sich sogar sagen, die beiden auf nicht (heute) gültige Texte gestützten Verfahrensarten, die genetische und die historische, seien der Sache nach Hilfsgesichtspunkte innerhalb des grammatischen Aspekts: Wie kam es zu der vorliegenden Formulierung? Welche Sinnvorstellungen und Regelungsabsichten führten - zum einen historisch und ohne Verbindung zum geltenden Recht, zum ändern gleichfalls historisch, aber mit genetischer Verbindung zu ihm - zur vorliegenden Formulierung des Rechtssatzes? Es wurde hier dargestellt, wie in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entgegen dem grundsätzlichen Bekenntnis zur „objektiven Theorie" verschiedentlich allein der aus Entstehungsgeschichte und Gesetzgebungsmaterialien gezogene Schluss zum sachlichen Angelpunkt der Entscheidung gemacht worden ist. Im jetzigen Zusammenhang geht es weniger um die innere Widersprüchlichkeit dieser judiziellen Position als darum, welches Gewicht die auf grammatische Auslegung bezogenen Argumente im Konfliktsfall haben sollen. Die genetischen und historischen Aspekte können helfen, mögliche Sinnvarianten in dem vom Wortlaut abgesteckten Spielraum inhaltlich zu präzisieren. Folgen aus dem zu entscheidenden Rechtsfall (statt aus der insoweit abstrakten Fragestellung nach historischen und genetischen Verständnismöglichkeiten) abweichende Teilergebnisse, so ist das weitere Vorgehen von der Frage nach dem Rangverhältnis aller Konkretisierungselemente bestimmt. Diese Frage ist in der üblicherweise verengten Perspektive des Streits zwischen „subjektiver" und „objektiver" Theorie nicht zu lösen. Die herkömmliche Behandlungsart solcher methodischen Konflikte übersieht auch, dass die historischen und genetischen Gesichtspunkte innerhalb der grammatischen Auslegung angesiedelt sind; dass sie daher sowohl die Entscheidung inhaltlich herausarbeiten als auch die rechtsstaatlichen Grenzen der Konkretisierung finden helfen.
JM I, Rnn. 360 ff. |
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