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extensive Auslegung |
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Bei dem Interpretationsgrundsatz der „Einheit der Verfassung" fehlt bislang die erforderliche Verhältnisbestimmung zu den „herkömmlichen" Auslegungsregeln, vor allem zur systematischen Interpretationsmethode. Dasselbe gilt für den Gedanken funktionell-rechtlicher Richtigkeit des zu findenden Ergebnisses. Für den Grundsatz verfassungskonformer Auslegung hat sich das Bundesverfassungsgericht in einer Reihe von Entscheidungen bemüht, solche Verhältnisbestimmungen klarzustellen. Nach diesem Kriterium darf ein Gesetz, dessen Verfassungswidrigkeit nicht geradezu evident ist, nicht für nichtig erklärt werden; es darf solange nicht für nichtig erklärt werden, als es im Einklang mit dem Grundgesetz ausgelegt werden kann. Das soll jedoch nicht nur für die unproblematischen Fälle gelten, in denen Verfassungsnormen als Kontrollnormen mit Gesetzesvorschriften verglichen werden, die ihrerseits ohne inhaltliche Einschaltung verfassungsrechtlicher Aspekte interpretiert bzw. konkretisiert worden sind. Das Bundesverfassungsgericht geht vielmehr so weit, zu verlangen, dieser „Einklang" mit der Verfassung müsse notfalls dadurch hergestellt werden, dass ein mehrdeutiger oder unbestimmter Gesetzesinhalt durch Inhalte von Verfassungsnormen bestimmt wird. Insoweit soll die Verfassung als „Sachnorm" zur „Ermittlung" des Inhalts einfacher Gesetzesvorschriften verwendbar sein. Das Bundesverfassungsgericht sieht somit Grenzen für dieses Verfahren nicht in funktionell-rechtlichen Kriterien der Rolle der Verfassung als Kontrollnorm bzw. als Sachnorm gegenüber der unterverfassungsrechtlichen Rechtsordnung. Es sieht solche Grenzen allein im Verhältnis zu herkömmlichen Auslegungsregeln in bezug auf das verfassungskonform zu interpretierende einfache Gesetz: Verfassungskonforme Auslegung soll gegen „Wortlaut und Sinn" oder gegen „das gesetzgeberische Ziel" nicht möglich sein. Wenn schon Normen der Verfassung nicht nur als Kontroll-, sondern zugleich auch als inhaltsbestimmende Sachnormen in das Geschäft der Konkretisierung einbezogen werden sollen, hätte begründet werden müssen, warum nicht nur der Normtext der unterverfassungsrechtlichen Vorschriften, sondern zugleich auch ihr „Sinn" bzw. ihr „gesetzgeberisches Ziel" der Zulässigkeit eines solchen Verfahrens Grenzen setzen.
Savigny hat seine Auslegungsregeln für das Zivilrecht und das Kriminalrecht formuliert. Die Brauchbarkeit seiner canones für das Staats- und Verfassungsrecht ist bis heute nicht grundlegend überprüft worden. Faute de mieux wurden die canones von verfassungs- (und verwaltungs-)rechtlicher Praxis und Lehre übernommen. Daher ist für verfassungsrechtliche Methodik die Rückwendung zu Savigny prekär. Die Berufung auf seine Regeln für das Verfassungsrecht kann sich jedenfalls nicht auf Savigny berufen. Dazu kommt, dass die von herrschender Meinung und Praxis als klassisch ausgegebenen Interpretationsaspekte, auf die sich auch das Bundesverfassungsgericht in programmatischen Bekenntnissen zurückziehen will, bei Savigny zum Teil anders umschrieben und teilweise abweichend beurteilt werden. Der frühe Savigny bezeichnet als Aufgabe der Interpretation die „Rekonstruktion des Gedankens, der im Gesetz ausgesprochen wird, insofern er aus dem Gesetz erkennbar ist". Der Interpret müsse sich „auf den Standpunkt des Gesetzgebers setzen und so künstlich dessen Ausspruch entstehen lassen". Die Interpretation müsse, um dahin zu gelangen, mit vier Mitteln arbeiten: dem logischen, dem grammatischen, dem historischen und dem systematischen. Extensive und restriktive Interpretation, also eine Auslegung, die den Wortlaut des Gesetzes gemäß seinem Zweck erweitert oder einschränkt, wird abgelehnt. Nach Savigny darf der Gesetzeszweck nicht selbst wie eine Regel angewandt werden. Der Interpret darf das Gesetz nicht fortbilden. Er darf es nur nachvollziehen: „Eine Vervollkommnung des Gesetzes ist zwar möglich, allein bloß durch den Gesetzgeber, nie durch den Richter darf sie vorgenommen werden". Savigny verwirft damit ausdrücklich die sogenannte teleologische Interpretation, die von der herrschenden Meinung zu den „klassischen Methoden" gerechnet und in der Praxis wegen ihrer „zweck"elastischen Geschmeidigkeit bevorzugt wird.
Ausdehnende wie einschränkende Auslegung werden nunmehr zur Berichtigung eines mangelhaften Ausdrucks im Normtext zugelassen. Der Gesetzeszweck wird auch jetzt noch als „vom Inhalt des Gesetzes getrennt" vorgestellt. Seine Verwendung im Geschäft der Auslegung soll, wenn auch „nur mit großer Vorsicht", zulässig sein. Bei Unbestimmtheit des im Normtext enthaltenen Ausdrucks sollen der „innere Zusammenhang der Gesetzgebung" und - soweit nachweisbar - der spezielle Zweck des Gesetzes herangezogen werden. Ist ein solcher nicht belegbar, so darf auf einen „allgemeinen Grund" im Sinn des später so genannten „allgemeinen Rechtsgedankens" zurückgegriffen werden.
Für die Grundrechte hat das Bundesverfassungsgericht einen auf den ersten Blick analogen Grundsatz, die sogenannte Grundrechtseffektivität, als Interpretationsprinzip zu entwickeln versucht. Das Gericht hält fest, Grundrechte seien weit auszulegen. Im Zweifel sei ihnen ein extensiver Geltungsbereich zuzuerkennen. Damit kommt die Judikatur in unmittelbare Nähe des Satzes „in dubio pro libertate". Dieser geht von einer „Freiheitsvermutung" für den Bürger aus. Bei der Konkretisierung von Verfassungsrecht soll das Ergebnis vorgezogen werden, das die beteiligten Rechte des Bürgers am wenigsten beschneidet. Der Grundsatz wird nur dann an den Schluss der Interpretation gestellt, wenn mehrere gleich vertretbare und begründbare Ergebnisse zur Auswahl stehen. Doch lässt sich eine derartige Regel als auswählende, als letztlich entscheidende Freiheitsvermutung methodisch nicht selbständig entwickeln. Sie könnte wie die rechtsstaatlichen Gebote der Normklarheit, Methodenbestimmtheit und Rechtssicherheit, von denen die nicht-normativen methodischen Regeln überlagert sind, nur aus dem geltenden Verfassungsrecht begründet werden. Es ist aber fraglich, ob Grundrechte und andre subjektive Berechtigungen auf dem Boden des Grundgesetzes im Konfliktsfall prinzipiell individualistisch verstanden werden können. Fragwürdig ist die Aus Aspekten sozialer Konflikthaftigkeit - nicht zuletzt unter Grundrechtsträgern - und der Gegenläufigkeit von Interessen und Rechten. Ob wirklich „der" Freiheit in Gestalt einer bestimmten am Rechtsfall beteiligten Norm oder ob einer ändern beteiligten Vorschrift der „Vorzug" zu geben ist oder ob das Ergebnis in eine Richtung geht, die sich mit diesem Entweder-Oder nicht kennzeichnen lässt, ist generell weder methodisch noch verfassungsrechtlich zu sagen. Im übrigen ist es nicht genau, das Prinzip als „Vermutung" auszugeben. Der juristische Begriff der Vermutung wird herkömmlich auf (im Einzelfall nicht voll geklärte) Tatsachen angewendet. Das schließt es nicht aus, am Ende der Interpretation Auswahlprinzipien für mehrere normativ gleich vertretbare Lösungen einzusetzen, lässt aber den gewählten Begriff als nicht empfehlenswert erscheinen. Wichtiger sind in jedem Fall die angedeuteten sachlichen Einwände, vor denen dieses Argument keinen Bestand hat.
Zweifellos abwegig ist der Grundsatz der sogenannten Grundrechtseffektivität. Das Bundesverfassungsgericht hat dort eine literarische Aussage, die sich auf die Alternative „Programmsatz" oder „aktueller Rechtssatz" und ausdrücklich nicht auf die Frage der Inhaltsbestimmung von Grundrechten bezog, offenkundig missverstanden.
JM I, Rnn. 31, 92, 94, 394 |
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