2. Vorgaben der Strafprozessordnung
Die StPO kennt neben der allgemeinen Regelung des § 34 StPO eine Reihe von Vorschriften, die sich mit der Begründung von strafgerichtlichen Entscheidungen befassen. Die wichtigsten Normtexte und ihr Verständnis durch die Praxis werden im Folgenden skizziert. Bereits von der Gesetzeslage her ist erkennbar, dass nicht nur die „Bedeutung“ des Normtextes, sondern auch die Argumente der Verfahrensbeteiligten für die Begründung eine Rolle spielen. a. Der Begründungszweck aus der Sicht der anordnenden Regeln
Zwar ergibt sich – was hier nicht vertieft werden kann, aber in Übereinstimmung mit der Recht-sprechung des BVerfG vorausgesetzt werden soll – eine grundsätzliche Pflicht zur Entscheidungsbegründung gerade für massive Eingriffe wie strafrechtliche Entscheidungen bereits aus der Verfassung. Gleichwohl ordnet 267 StPO als lex specialis zu § 34 StPO die Begründung des Strafurteils auch noch einmal einfachgesetzlich an. Danach sollen „die Urteilsgründe die als erwiesen erachteten Tatsachen angeben, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden“ und „das zur Anwendung gebrachte Strafgesetz bezeichnen“. Wenngleich damit nach allgemeiner Ansicht auch eine Erörterung von Rechtsfragen angeordnet ist, steht noch nicht fest, wie diese tatsächlichen bzw. rechtlichen Ausführungen beschaffen sein müssen. Verbreitet sind hier – wie auch in den Kommentaren zu anderen Verfahrensordnungen – Aussagen, dass die Begründung „konkret und nicht nur formelhaft“ erfolgen müsse o.ä. und dass in ihr die Punkte enthalten sein sollen, auf denen das Urteil beruhe bzw. die für dieses „maßgeblich“ seien (während zumindest aus Gründen der Verfahrensökonomie, aber auch der Rechtsklarheit Unerhebliches wegzulassen sei).
Allerdings ist dieses Erfordernis einer „konkreten“ und auf „maßgebliche“ Punkte eingehenden Begründung nur eine selbstverständliche Folge der Aufgabe der Begründung, den o.g. Legitimitätstransfer zu bewirken. Offen bleibt dabei die Frage, wonach sich richtet, was „maßgeblich“ bzw. erheblich ist oder mit anderen Worten: nach dem Relevanzhorizont. Wäre dieser ein semantischer im Sinne einer Bedeutungserkenntnis, so müsste die Begründung eine exakte Ableitung des Entscheidungsergebnisses aus diesem Normtext liefern. Ein Blick auf die Entscheidungspraxis verdeutlicht jedoch, dass der Relevanzhorizont nicht nur durch die Semantik, sondern vor allem durch die Argumentation im Verfahren bestimmt wird: Wichtige Gesichtspunkte sind hier der konkrete Gegenstand des Verfahrens, Vorgaben aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung und auch im Strafverfahren das Vorbringen der Beteiligten. Wenn das Gericht in seiner Begründung ausführt, warum nach seiner Ansicht die für die Entscheidung maßgebli-chen konkreten Rechtsfragen so und nicht anders zu bewerten sind, liegt die Betonung gerade auf dem „nicht anders“. Denn oft werden Angeklagter und Staatsanwalt zwar durchaus beide die gleichen „konkreten“ Punkte für „maßgeblich“ halten, diese Punkte aber anders sehen, und deswegen ist gerade aus Sicht der „unterlegenen“ Seite wichtig, warum das Urteil „nicht anders“ ausgefallen ist oder m.a.W.: wie das Gericht zu ihren Argumenten und damit zu den Einwänden gegen die in der Entscheidung verfolgte Ansicht steht. Neben dem Vorbringen der Beteiligten können aber auch die Umstände des jeweiligen Einzelfalles die Behandlung eines Punktes in der Begründung erfordern, wenn sich ein bestimmtes Rechtsverständnis aufdrängt und trotzdem nicht zugrundegelegt wird.
Gut verdeutlicht wird dies durch eine Entscheidung des 3. Strafsenats des BGH aus dem Jahre 1999 (NJW 1999, 2606): Auf die wirksam auf den Maßregelausspruch beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft hin hatte der BGH über einen Fall zu entscheiden, in dem der Angeklagte die formellen Voraussetzungen des 1998 neu gefassten § 66 III 1 StGB für die Anordnung einer Sicherungsverwahrung erfüllte. Das Landgericht hatte keine Sicherungsverwahrung angeordnet und über diese Anordnung im Urteil auch keine näheren Ausführungen gemacht, allerdings war von der Staatsanwaltschaft offenbar auch kein entsprechender Antrag gestellt worden. Nach § 267 VI StPO nun muss im Urteil nur eine angeordnete oder eine entgegen einem gestellten Antrag nicht angeordnete Sicherungsverwahrung begründet werden, so dass das Fehlen entsprechender Ausführungen formell keinen Mangel darstellte. Da aber die Möglichkeit einer Sicherungsverwahrung eröffnet war, sah der BGH die Frage als „für die Anwendung des materiellen Rechts erheblich“ an und verlangte eine Begründung der Nichtanordnung jedenfalls in Fällen, in denen sich eine Anordnung „aufgedrängt“ hätte. Nun wäre diese Prüfung allerdings auch für die Anwendung materiellen Rechts „erheblich“, wenn die Anordnung nur eventuell möglich oder sogar relativ fernliegend erschienen wäre: das Merkmal der „Erheblichkeit“ hat also insoweit nur untergeordnete Bedeutung; wichtiger ist – was wohl auch der Senat vor Augen hat –, dass die Anordnung der Sicherungsverwahrung sehr nahegelegen hätte. Der Relevanzhorizont ist also auch insoweit nur in zweiter Linie ein semantischer, durch den Wortlaut des § 66 III 1 StGB bestimmter, sondern stärker pragmatisch durch die in der Verhandlung hervorgetretenen Umstände des konkreten Falles geprägt.
b. Der Begründungszweck aus der Sicht der einschränkenden Regel
Die Funktion der richterlichen Begründung wird freilich nicht nur in Vorschriften deutlich, in denen eine Begründungspflicht angeordnet wird, sondern auch und gerade in solchen, die von der (verfassungsrechtlich an sich gebotenen, vgl. o.) Begründungspflicht suspendieren. So wie in anderen Rechtsgebieten (vgl. nur §§ 313a I 1 ZPO, 122 II 1 VwGO) Einschränkungen der Begründungspflicht für unanfechtbare Entscheidungen bestehen, macht auch § 267 IV StPO erhebliche Abstriche von den strengen strafprozessualen Begründungsanforderungen, wenn „alle zur Anfechtung Berechtigten auf Rechtmittel“ verzichten oder „innerhalb der Frist kein Rechtsmittel eingelegt“ wird. Da es im Strafprozessrecht keine erstinstanzlichen Urteile gibt, die kraft Gesetzes generell einer Anfechtung entzogen wären, sind die Fälle des Rechtsmittelverzichts aller zur Anfechtung Berechtigter funktional die (einzigen) erstinstanzlichen Urteile im Strafverfahrensrecht, die keiner Anfechtung unterliegen. Dies zeigt, dass die Begründungspflicht auch und gerade im Interesse der „unterlegenen“, zur Anfechtung berechtigten Seite besteht. Die Begründung einer Entscheidung dient daher nicht nur ihrer Nachvollziehbarkeit, sondern auch ihrer Überprüfbarkeit.
Mit dem Urteil teilt das Gericht den Beteiligten mit, wie gerade es das Recht im konkreten Fall versteht und gibt den Anfechtungsberechtigten die Möglichkeit, die ihrer Ansicht nach nicht ausreichend berücksichtigten Einwänden gegen diese Sichtweise Ausdruck zu verleihen. Das Rechtsmittelgericht hat dann zu prüfen, ob es auf Grund dieser Einwände nicht zu einem anderen Ergebnis kommen muss. Eine solche Möglichkeit zum Wiederholen und Spezifizieren von Einwänden ist aber nicht geboten, wenn sie ohnehin keinen Einfluss auf die Entscheidung des Rechtsstreits mehr haben können.
Diese Einordnung der Begründung bestätigt im übrigen entscheidend den Gedanken, gerade im Vorbringen und der Sichtweise der Beteiligten einen maßgeblichen Relevanzhorizont für die Wesentlichkeitsfrage zu sehen. Zumindest auf den ersten Blick ist dann zwar erstaunlich, dass die Entscheidungen der Obergerichte nicht in noch weiterem Umfang einer Begründung entzogen sind. Allerdings ist die – oft sogar außerordentlich ausführliche – Begründungstätigkeit der Obergerichte auch unter dem Blickwinkel ihrer rechtsvereinheitlichenden Funktion zu sehen, die nur erfüllt werden kann, wenn die Entscheidungen begründet sind. Damit schließt sich der Kreis: Einerseits wurden oben als Bestandteil des Relevanzhorizonts der Begründung auch frühere (insbesondere höchstrichterliche) Entscheidungen genannt. Damit diese aber in späteren Fällen diese Funktion erfüllen können, ist auch bei ihnen eine entsprechende Begründung erforderlich.
c. Der Begründungszweck aus der Sicht der Revision
Ebenso wie im Zivil- und Verwaltungsprozess (vgl. §§ 551 Nr. 7 ZPO, 138 Nr. 6 VwGO) führt nach § 338 Nr. 7 StPO auch im Strafverfahren das vollständige Fehlen einer vorgeschriebenen (und sei es nur formalen) Begründung zu einem absoluten Revisionsgrund. Dies ist sinnvoll, wenn die formale Begründungspflicht nicht leer laufen soll, da das Fehlen der – dem Urteil ja erst nachfolgenden! – Begründung geradezu der Prototyp einer Rechtsverletzung ist, hinsichtlich derer das „Beruhen“ des Urteils auf der Verletzung (vgl. § 337 StPO) für den Rechtsmittelführer schlechterdings nicht nachweisbar ist.
Nun liegt zwar die primäre gesetzgeberische Intention, das Fehlen der Begründung mit dem Urteil vorausgehenden Verfahrensfehlern gleichzusetzen, auf der Hand: Die Revision als reine Rechtsinstanz auf der Grundlage der vorinstanzlichen Verfahrensakten könnte keine falsche Rechtsanwendung herausfinden, wenn diese nicht in der Begründung aufgezeigt würde; der Verzicht auf eine Urteilsbegründung würde das Urteil unangreifbar machen. Eine solche Sichtweise setzt jedoch voraus, dass für eine Überprüfung der angefochtenen Entscheidung nicht nur der hergestellte Sachverhalt, sondern auch die rechtlichen Erwägungen des Gerichts mitgeteilt werden müssen. Dies zeigt aber, dass die vorangegangene Entscheidung doch nicht – wie es insbesondere das tradierte syllogistisch-deduktive Rechtsfindungsmodell voraussetzt – durch die anwendbaren Normtexte eindeutig vorbestimmt ist; anderenfalls könnte das Revisionsgericht sein durch die Weihen der höheren Instanz ausreichend als überlegen legitimiertes Ergebnis einfach mit dem des Ausgangsgerichts vergleichen: Stimmen sie nicht überein, muss das angegriffene Urteil auf einem Rechtsfehler beruhen; stimmen sie überein, wären eventuelle Rechtsfehler jedenfalls nicht kausal. Um im Rechtsmittelverfahren ein schon vorher feststehendes Ergebnis zu kontrollieren, bräuchte man keine Begründung; der Justizsyllogismus würde genügen. Dass der Begründung eine so große Bedeutung zugemessen wird, zeigt, dass es vielmehr um die Frage geht, ob die Argumente und Einwände der Beteiligten, sowie die Vorgaben von Wissenschaft und Obergerichten im fraglichen Verfahren ausreichend verarbeitet wurden. Für die Überprüfung dieser Fragen ist eine Begründung unumgänglich.
Druckfassung in: Golthammer’s Archiv für Strafrecht 6/2002, S. 303 ff. © Christensen / Kudlich 2004
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