Wortlautgrenze
Eine richterliche Entscheidung verstößt gegen die Grenzfunktion des Wortlauts, wenn die formulierten Entscheidungs- und Rechtsnormen nicht bestimmten Normtexten aus der Normtextmenge des geltenden Rechts methodisch zugerechnet werden können. In dieser Aussage verknüpfen sich methodologische mit verfassungsrechtlichen Faktoren, sind mit anderen Worten methodenrelevante Normen, vor allem aus den Bereichen von Rechtsstaat und Demokratie, mit im Spiel. Das liegt an der Eigenart der sogenannten Wortlautgrenze einer demokratisch gebundenen, rechtsstaatlich geformten Arbeitsmethodik der Juristen. Der Wortlaut einer Vorschrift hat, wie ausgeführt wurde, nur in den seltenen Fällen echter Subsumtion Bestimmungsfunktion, in aller Regel dagegen in positiver Richtung Indizwirkung, in negativer eine Grenzwirkung. Der Wortlaut bildet aus verfassungsrechtlichen Gründen die Grenze des Spielraums zulässiger Konkretisierung. Die Entscheidung muss sich nicht "aus dem Wortlaut ergeben", was eben nur in raren Grenzfällen feststellbar ist. Sie muss aber mit dem Wortlaut jedenfalls noch vereinbar sein. Das ist keine methodologische, sondern eine normative Aussage. Die Wortlautgrenze bildet die rechtsstaatlich-demokratisch angeordnete Linie nicht einer methodologisch möglichen, sondern einer positivrechtlichen zulässigen Konkretisierung. Die Grenzfunktion des Wortlauts ist also nicht identisch mit der Konkretisierungsfunktion (Indizwirkung) des grammatischen Auslegungselements. Denn die Entscheidung klebt nicht am unvermittelten Wortlaut, beschränkt sich nicht auf Textinterpretation. Die im Fall formulierten Entscheidungs- und Rechtsnormen müssen jedoch mit dem im vorherigen Entscheidungsvorgang voll konkretisierten Normtext noch vereinbar sein; dieses Urteil verlangt im Fall der Verneinung - "jedenfalls nicht mehr vereinbar" - Eindeutigkeit. Bleibt die Frage mindestens zweideutig, so kann eben nicht gesagt werden, der Spielraum jedenfalls noch möglicher Verständnisvarianten der interpretierten Sprachdaten sei verlassen. Wenn dabei im Einzelfall mehrere Konkretisierungselemente primärsprachlicher Art (Sprachdaten) zu demselben Ergebnis führen, so stellt sich die Wortlautgrenze als Normprogrammgrenze dar. Gibt es dagegen bei methodologischen Konflikten unter den einzelnen Konkretisierungsfaktoren den Grenzfall, dass sich allein das grammatische Argument durchsetzt, so trägt für diese Fälle die grammatische Auslegung auch die Grenzfunktion. Es ist nicht der in herkömmlicher Methodenlehre unklar so genannte "mögliche Wortsinn", sondern das auf das grammatische Element geschrumpfte Normprogramm, welches die normativ begründete letzte Auffanglinie für die rechtsstaatlicheForderung nach Verfassungs- und Gesetzesbindung, einschließlich der sich daran knüpfenden weiteren rechtsstaatlichen Normen (wie Vorrang-, Vorbehalts-, Kollisions-, Maßstabs- und Kontrollnormen), realisieren hilft.
JM I, Rnn. 21 f., 101, 110, 120, 159, 257, 270, 270, 291 f., 301, 312, 407, 427, 538 ff., 565 |
|